Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

32 - Passe temps

 

Passe-Temps

zwischen mir und meinem Vetter in der Schneiderstunde (Twilight)

...
Vor einiger Zeit starb mir meine Mutter. Sie hielt vorher viel aus, still und gelassen wie sie immer war, und konnte nicht leben und nicht sterben. Einige Tage vor ihrem Ende reisten wir alle noch zu ihr, und standen da um ihr Bette und sahen sie an, einer so klug wie der andre. Ich wollte mir mein Herz gerne trösten, und wollte ihr noch so gerne was zuliebe tun; aber essen und trinken mochte sie nicht mehr, mochte auch sonst nichts mehr. Ich dachte an alle die großen und kleinen Erfindungen der Menschen, davon du mir gesagt hast: an die Seelenlehre, an Newtons Attraktionssystem, an die Allgemeine deutsche Bibliothek, an die Genera Plantarum, an den Magister Matheseos, an den Calculum infinitorum, an die grade und schiefe Aszension der Sterne und ihre Parallaxen etc., aber es wollte mir alles nichts verschlagen – und sie lag out of reach! lag am Abhang und sollte herunter! und ich konnte nicht einmal sehen wo sie hinfiel. – – Da befahl ich sie Gott, und ging hinaus ... und machte ein Sterbegebet, dass sie’s ihr vorläsen. Es war meine Mutter und hatte mich immer so lieb gehabt, und ich konnte doch nichts anders! –
...

 

Eigentlich möchte ich endlich zum Höhepunkt von Matthes’ Schreibereien kommen: „Asmus omnia sua secum portans, oder Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten, 4. Teil“. Nicht nur weil es einige seiner besten Stücke enthält, es gibt auch etwas klarzustellen. Über mich und den Krieg. Aber von unserem philosophischen Sommerabend aus sind noch einige Jahre zu überbrücken bis zu Asmus IV. Jahre mit zwei Geburten, einem Todesfall, zwei importierten Söhnen, drei Übersetzungen und einem Umzug. Nicht zu vergessen: Asmus III.

Der Dritte Teil war eigentlich der zweite Band der gesammelten Botenwerke. Band eins enthielt ja bereits Teil eins und zwei. Bei Matthes musste manches immer ein bisschen komplizierter sein. Wieder halfen Freunde, Vorbestellungen zu sammeln. Auch die Kritik war erneut sehr entgegenkommend. Zusammen mit der Neuauflage des ersten Bandes kam so von Zeit zu Zeit Geld ins Haus – und floss prompt wieder hinaus.

Stetiger war der Geldstrom durch die beiden Jacobi-Söhne. Knapp zwei Jahre lang konnte Matthes als Vater von Söhnen üben. Und bezahlt bekam er es auch noch.

Seine eigenen Söhne ließen weiter auf sich warten. Tochter die vierte wurde Auguste. Mit etwas Abstand folgte Henriette. Fünf Töchter, kein Sohn.

„Niemand in Wandsbeck hat von einer solchen Serie je gehört“, erzählte mir Matthes mit gespieltem Grimm. „Nur die alte Frau Greve hat eine Tochter, die im Thüringschen sitzt, und vier Mädchen zur Welt gebracht hat, bevor der erste Sohn kam.“

„Aber er ist gekommen“, hakte ich ein.

„Ja! Meiner wird auch kommen. Der Herr wird ein Einsehen haben, dass er mich nun lang genug mit wunderbaren Mädchen beschenkt hat.“

„Na? Höre ich da gewisse Tricksereien?“

„Nein, mein Lieber. Da hast du dich verhört. Nach den wunderbaren Mädchen folgen nun wunderbare Jungens. Nichts Anderes war gemeint.“

Zwischen den Geburten starb Matthes’ Mutter. Ich hatte ihn vorgewarnt. Er trug es mit Fassung, verabschiedete sich von Rebekka und den Mädchen und zog gen Reinfeld.

Die alte Dame war längst bereit zum letzten Schnitt. Matthes und seine Brüder konnten das nicht übersehen. So verlief die ganze Angelegenheit unaufgeregt in einem würdigen Rahmen. Solche Fälle sind mir die liebsten. Da bin ich Freund und Erlöser.

Auf der anderen Seite sind auch Kinder eine gute Klientel. Solange sie noch voller Vertrauen sind. Leider haben Eltern dafür nicht sehr viel Verständnis, was oft zu unschönen Szenen führt.

Zu erben gab es kaum etwas für Matthes. Es hatte sich jedoch eine andere Geldquelle aufgetan. Ein schlesischer Adeliger bescherte ihm eine jährliche Rente von 200 Talern. Solche Wohltaten für Literaten waren damals üblich. Sie waren schlicht notwendig, damit die Herren Dichter etwas zu knabbern hatten. Später bekam Matthes sogar eine Rente vom dänischen Kronprinzen.

Mit dem adeligen Geld war Matthes’ finanzielle Lage so bequem, dass er sich den Umzug in ein größeres Haus in Wandsbeck leisten konnte. Das neue Haus an der Lübschen Landstraße grenzte direkt ans Grundstück des Grafen Schimmelmann. Einen Schlüssel bekam Matthes gleich dazu; für Spaziergänge im gräflichen Garten.

So, habe ich jetzt alles? Asmus III, zwei Geburten, ein Todesfall, zwei importierte Söhne und ein Umzug. Nein, die Übersetzungen fehlen noch.

Sie waren Segen und Fluch zugleich. Segen, weil Matthes zwei französische Romane ins Deutsche übertrug, die ihm Geld brachten. Fluch, weil er leichtsinnigerweise eine religiöse Schrift übersetzte. Die war – vornehm ausgedrückt – umstritten.

Das Werk hieß im Original „Des Erreurs et de la Vérité“. Autor war ein Monsieur Louis Claude de St. Martin. Im Deutschen erschien das Buch als „Irrtümer und Wahrheit“ mit einem dieser fantastisch langen Untertitel, wie sie damals Mode waren: Rückweis für die Menschen auf das allgemeine Principium aller Erkenntnis. Ein Werk, darin die Beobachter auf die Ungewissheit ihrer Untersuchungen und auf ihre beständigen Fehltritte geführt werden, und ihnen solcher Weise der Weg angedeutet wird, den sie hätten gehen müssen, um die physische Evidenz zu erhalten über den Ursprung des Guten und des Bösen, über die Menschen, über die materielle Natur, über die immaterielle Natur, über die Basis der politischen Regierungen, über die Autorität der Souverains, über die bürgerliche und peinliche Gerechtigkeit, über die Wissenschaft, die Sprache und die Künste.

Matthes gab offen zu, den Autor auch nicht immer verstanden zu haben. Nur der grundlegende Gedanke gefiel ihm außerordentlich: Das Streben nach Wissen und Fortschritt sei vergeblich, denn alles wurde bereits zu Anfang prinzipiell festgezurrt. Und der Anfang lag bekanntlich bei Gott.

So würde ich das zusammenfassen, aber ich habe das Buch auch nicht verstanden. Weder in Französisch noch auf Deutsch. Genau das war das Problem. Keiner verstand es, aber eines war klar: Dieses mysteriöse Werk wollte den Gelehrten jener Tage ihr Lieblingsspielzeug wegnehmen – die Vernunft. So bekam Matthes die Schläge ab, die dem Autor zugedacht waren. Schon der bloße Verdacht, ein Mystiker oder religiöser Schwärmer zu sein, wurde mit Hohn, Spott und Verbannung aus der hohen Literatur bestraft.

Dummerweise kam der gesammelten Werke vierter Teil erst nach der St. Martin-Übersetzung heraus. Die Gemüter hatten sich noch nicht beruhigt. Der vierte Teil wurde ungnädig aufgenommen und abgestraft. Matthes war das egal. Er wusste, was er konnte. Außerdem geschah etwas viel Wichtigeres.


Kommentar des Autors:

Matthias Claudius hatte weder Bauern- noch Fürstenhof zu vererben, dennoch war der erste Sohn von besonderer Bedeutung. Und aufgrund der Kindersterblichkeit damals sollte am besten noch ein zweiter und dritter folgen, denn nur so war garantiert, dass es einen den Vater überlebenden Stammhalter gab, der den Familiennamen weitertrug. Was hier mit etwas Humor angereichert wird, dürfte in der Realität bei allem Gottvertrauen vielleicht zu Spannungen, mindestens aber zu Enttäuschungen geführt haben.