Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

31 - Anselmuccio

 

Anselmuccio

Ist gar ein holder Knabe, er!
Als ob er ’s Bild der Liebe wär.
Sieht freundlich aus, und weiß und rot,
Hat große Lust an Butterbrot,
Hat blaue Augen, gelbes Haar,
Und Schelm im Nacken immerdar,
Hat Arm’ und Beine, rund und voll!
Und alles, wie man’s haben soll.
Nur eines fehlt dir, lieber Knabe!
Eins nur: Dass ich dich noch nicht habe.

 

Ein paar Wochen nach der Ankunft in Wandsbeck brachte Rebekka ein weiteres Mädchen zur Welt: Anna Friederike. Da saß er nun der gute Matthes mit seinen drei Töchtern. Es mangelte nicht an Vaterliebe für Caroline, Christiane und Anna. Pummelchen Anna wurde gar seine Lieblingstochter. Er tollte mit ihnen im Garten, sang ihnen Schlaflieder. Wenn es Rebekka mal nicht gut ging, sorgte er Tag und Nacht für seine Töchter. Als sie älter wurden, gab er den Mädchen Schulunterricht. Und dennoch, ein Sohn …

„Vielleicht solltest du ganz fest daran glauben, dass es ein Mädchen wird, Matthes.“

„Und was soll dies bewirken, mein Herr Geburtsberater Hain?“

„Bisher hast du immer geglaubt, es wird ein Sohn. Doch es wurde eine Tochter. Wenn du jetzt …“

„Aha, du willst den lieben Gott täuschen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Herr auf solche Manöver hereinfällt. Das wäre zu einfach: Ich stelle mir vor, es regnet, damit die Sonne scheint. Ich stelle mir vor, ich bin satt, damit Manna vom Himmel fällt. Nein, nein. Unser Freund Herder, der muss einen Schwank kennen, Söhne zu bekommen. Seine Frau hat ihm nun schon zwei geschenkt und noch kein Mädchen.“

Wir beide saßen an einem lauen Abend im Garten. Die Geburt von Anna lag bereits einige Zeit zurück. Rebekka war mit den Mädchen bei ihrer Mutter.

„Außerdem, Freund Hain, könnte es sein, dass ich bald Söhne bekomme, ohne den Herrn beschwindeln zu müssen.“

„Wie das?“

„Du erinnerst dich an den Düsseldorfer Herrn Jacobi, der mir das Reisegeld vorschießen wollte?“

Ich nickte.

„Jacobi hat ebenfalls zwei Söhne, vielleicht weiß auch er etwas, was ich nicht weiß. Er überlegt nun, wohin er die beiden für die Schulausbildung geben soll. Wir haben in den letzten Monaten ein paar Briefe gewechselt und es zeigt sich, dass unsere Art, Gott und die Welt zu betrachten, sehr ähnlich ist. Daher sind wir übereingekommen, dass ich einen Plan zusammenstelle, was ich für Ausbildung und Erziehung der beiden Jünglinge als notwendig erachte. Wenn dieser zu seiner Zufriedenheit ausfällt, dann könnte ich den Unterricht hier bei mir im Hause veranstalten. Ein, zwei Jahre Kost und Logis und eine Schulvergütung für zwei Buben. Nicht schlecht, oder?“

„Ja, Jungens, die gleich Geld mitbringen: gar nicht übel. Und sonst? Wie sind deine weiteren Pläne bezüglich des klingenden Talers?“

„Herder ist schon wieder auf der Suche. Auch mein alter Freund Gerstenberg hört sich um. Dennoch will ich sehen, was ich aus eigener Kraft schaffen kann. Eine Übersetzungsarbeit aus dem Französischen habe ich so gut wie sicher. Das wäre die Geschichte des ägyptischen Prinzen Sethos von Abbé Terrasson, die mir der Buchhändler Löwe aus Breslau geben will. Wenn er mit meiner Arbeit zufrieden ist, könnten weitere Aufträge kommen. Auch eine zweite Auflage von Asmus eins und zwei wird so bald wie möglich erscheinen, und Band drei soll nächstes Jahr folgen.“

„Gut, du hast dir viel vorgenommen.“

„Es sind auch drei Schnäbelchen zu füllen. Ich tue, was meine Botenkräfte hergeben. Den Rest mag der Herr nach seinem Willen erledigen.“

„Wenn er denn reiche Leute mit gut gefüllten Speisekammern sterben lässt, sollte das kein Problem sein.“

Matthes warf mir einen Musst-du-mich-daran-erinnern-Blick zu. Zum Glück kam Rebekka mit den Mädchen gerade den Steindamm hinauf.

„Schau, Freund Hain: Wenn man von den Spätzlein spricht, dann kommen sie schon.“

Gemächlich, sehr gemächlich kam Rebekka näher. Sie trug Anna auf dem Arm. Christiane schaute ihr über die Schulter. Sie war mit einem Kreuzgurt auf den Rücken geschnallt. Nur Caroline fehlte.

„Wo ist Linchen?“, fragte ich Matthes.

„Ja, wo ist Line?“, fragte er in einem rhetorischen Ton zurück und ließ dann seine Stimme lauter werden:

„Wo ist die kleine Line? Die bald ein großes Mädchen ist und ihren dreieinhalbten Geburtstag hat. Ah, Linchen ist bestimmt bei Großmama und hält ein Schläfchen.“

Ein glückliches Juchzen ließ sich hinter Rebekka hören.

„Was war das, Herr Schneider? Ein Juchzfisch in Wandsbeck? Das glaube ich ja gar nicht, diese Juchzfische schwimmen doch alle im großen, weiten Ozean. Hier an Land im trockenen Wandsbeck gibt es solcherart Fischlein nicht.“

Und dann sprang Linchen hervor, die Arme erhoben, die Finger gespreizt.

„Da bin ich“, rief sie. Und vom eigenen Schwung überholt, fiel sie vornüber auf Knie und Hände. Line schaute überrascht. Dann enttäuscht. Ihr Gesicht verzog sich. Doch bevor sie den Tränen freien Lauf lassen konnte, sprang Matthes auf.

„Line, Line, Line“, rief er und hopste etwas ungelenk über den niedrigen Zaun, „meine süße Kliene.“

Mit offenem Mund sah Line ihren Vater, die Arme ausgebreitet und wild mit den Händen wedelnd, auf sich zulaufen.

„Fliegt wie eine …“, er hob sie hoch in die Luft, „… Bieneee!“

Und er ließ sie kreisen, bis sie wieder juchzend lachte. Christiane auf Rebekkas Rücken streckte begeistert die Hände hoch und ließ sie mitkreisen. Anna schlief unglaublicherweise weiter im Arm ihrer Mutter.

Noch immer saß ich im Garten. Familie Claudius war beschäftigt mit Glücklichsein. Ich bin es gewohnt, unbeteiligt zuzuschauen. Doch in jenem Moment gab es mir einen kleinen Stich. Ein Gefühl von Traurigkeit durchflutete mich. Was aber gleich vorbei war, als Rebekka sich nach mir umschaute und näher kam. Ich stand auf, um das Gartentörchen zu öffnen.

„Sehen Sie sich das an, Herr Schneider, was soll nur werden, wenn noch wilde Jungens dazu kommen?“

„Das frage ich mich auch. Ein großer wilder Junge scheint genug zu sein.“

„In Arm“, mischte sich Christiane ein.

„Gleich Kind. Herr Schneider, seien Sie so lieb und nehmen Christiane in Empfang, wenn ich den Gurt löse.“

„Natürlich. Gerne.“

Christiane rutschte in meine Arme.

„Au’ flie’n.“

„Oh, das tut mir leid, meine Kleine“, schwindelte ich. „Für solche Dinge bin ich zu alt. Ich kann dich wiegen. Hin und her. Wenn du magst?“

Die Kleine nickte heftig. Ich setzte mich und wiegte sie. Rebekka schaute lächelnd zu.

„Kinder haben Sie nie erwähnt. Sie hatten keine, oder?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein, selbst hatte ich keine. Obwohl ich Kinder mag.“

Matthes kam mit Line zurück, die erschöpft in seinen Armen ruhte. Und dann saßen wir drei dort, jeder ein Kind im Arm, das halb oder ganz schlummerte. Eine friedliche Som-merabendstimmung legte sich über den Garten. Wir schwiegen. Bis Rebekka die Stille unterbrach.

„Ach, könnte es doch immer so schön sein.“

„Ohne Leiden keine Freuden, sagt Salomo“, meinte Matthes.

„König Salomo war weise“, gab Rebekka zu. „Aber etwas weniger Leiden, etwas mehr Freuden auf der Welt, dagegen hätte er sicher nichts gehabt. Oder, Herr Schneider?“

„Mir scheint es weise genug, dem zuzustimmen.“

„Wer Ohren hat, der höre“, warf Matthes hinterher. „Freund Schneider traut der Weisheit der Frauen.“

„Nicht der Frauen. Deiner Frau. Es mag trivial sein, aber wenn jeder so dächte: etwas weniger Leiden, etwas mehr Freuden. Und wenn jeder gegenüber anderen danach handelte, dann … dann braucht es keine Wissenschaft, um zu schließen, dass das Leben auf Erden viel schöner würde.“

„Gut, mein Freund, da sind wir einig. Es bedarf recht wenig Wissenschaft, aber viel Glauben und Mitgefühl, um ein schöneres Leben zu führen.“

Recht bald nach diesem philosophischen Ausflug verabschiedete ich mich. Solche Gedanken mögen für einen müßigen Sommerabend genügen, doch ich spürte die Kraft in Christiane flackern. Das war – und ist immer noch – nicht ungewöhnlich bei Kindern. Die Kraft sucht Verbündete, solang die Widerstandskräfte gering sind. Nur erinnerte mich das Flackern daran, dass ich es bin, der Lebensphilosophien auf die Probe stellt. Ihr Wert zeigt sich, wenn ich den Schnitt setze. Und dass ich irgendwann Matthes’ Philosophie einer Probe würde unterziehen müssen, daran wollte ich lieber nicht denken.


Kommentar des Autors:

Ein paar biographische Informationen, ein bisschen Familienidyll. Viel scheint an dem Kapitel nicht dran zu sein und doch dient es der Vorbereitung auf die Dinge, die noch kommen werden. Inwiefern und auf was vorbereitet wird, will ich natürlich nicht verraten.