29 - Eigentlich ist es unfair
Eigentlich ist es unfair und doch: Ich mag Darmstadt bis heute nicht. Zum Sterben kann ich den Ort nicht empfehlen. Ruft mich die Kraft dort hin, tue ich lustlos meine Pflicht: Schnitt und weg. Dabei haben sich die Darmstädter Mühe gegeben. Sie richteten eine Landzeitung ein, Matthes war wieder Redakteur. Trotzdem: Er wurde dort nicht glücklich. Und das trage ich den Darmstädtern bis zum heutigen Tage nach. Das mag unlogisch sein. Aber Logik hat mir bisher niemand nachgesagt. Was ich so höre, erwische ich meist die Falschen.
Wenn ich Matthes’ Geschichten richtig verstanden habe, war nicht nur die Arbeit an sich das Problem. Es scheint zwischenmenschlich nicht gepasst zu haben. Sein Vorgesetzter war von der Sorte „Ich mache, was ich will, ich bin der Boss“. Außer sich bei mir zu beklagen, standen Matthes keine Mittel zur Verfügung. Ränkespielchen hinter eines anderen Rücken waren seine Sache nicht. Der Boss hatte damit keine Probleme.
Matthes bekam ein Briefchen aus der oberen Chefetage: Entweder reiße er sich am Riemen oder kündige. Er kündigte. Alle Sicherheit, alles Geld galten ihm nichts, wenn es um seinen Seelenfrieden ging.
Rebekka hat es hart getroffen, das sichere Einkommen zu verlieren. Zumal: Der ersehnte Sohn sollte bald kommen. Doch es gab keine Vorwürfe. Sie kannte ihren „Matz“ inzwischen zu gut und hatte längst gewusst: Darmstadt würde nicht von Dauer sein.
Natürlich wollten sie zurück nach Wandsbeck. Nur war nicht genug Geld da. Nicht mal für die Reise in der eigenen Kutsche. Und dann wurde Matthes krank. Schwer krank. Die alte Geschichte: Eine Brustfellentzündung legte ihn flach. Er hatte hohes Fieber.
Es war schon Frühling, als es höchste Zeit für mich wurde vorbeizuschauen. Am Abend schlich ich nach Darmstadt hinein. Den Hut behielt ich zunächst auf. Ich klopfte an die Haustür.
Ein erstes Mal.
Ein zweites Mal.
Ein drittes Mal.
Nach einiger Zeit hörte ich Schritte. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Rebekka spähte hinaus. Sie sah mich und zuckte zusammen. Anscheinend hatte ich sie überrascht. Sie fasste sich aber schnell und öffnete die Tür ganz.
„Herr Schneider, guten Abend, kommen Sie doch herein.“
„Einen wunderschönen guten Abend, Rebekka.“
Ich trat ein. Behutsam schloss sie die Tür. Etwas unsicher schaute sie mich an.
„Matz liegt zu Bette. Ihm geht es leider nicht sehr gut. Die Pleuritis ist wieder ausgebrochen.“
„Schläft er?“
„Nein, ich denke nicht. Gerade habe ich ihm noch aus dem Buch vorgelesen.“
„Na, dann wollen wir mal schauen.“
Ich drehte mich Richtung Schlafraum. Doch Rebekka rührte sich nicht.
„Meinst du, ich sollte lieber nicht hineinschauen?“
Sie schaute mich an, schaute weg. Irgendetwas nagte an ihr.
„Ist es so schlimm?“, hakte ich nach.
Sie biss sich auf die Lippe. Das war etwas, was ich noch nie bei ihr gesehen hatte. Ihre Augen glitzerten im Schein der Kerze. Schließlich begann sie zögernd:
„Sie kommen viel herum, Herr Schneider. Haben Sie von Fällen gehört, bei denen eine Pleuritis plötzlich zum … zum Ende geführt hat?“
Ich hätte vielleicht doch früher kommen sollen.
„So etwas mag es gegeben haben, aber bei Matthes glaube ich nicht dran.“
„Nicht?“
„Nein! Ein Wandsbecker Landei ist härter als man denkt.“
Sie lächelte.
„Wenn Sie es sagen, dann muss es so sein. Gehen Sie ruhig hinein. Ich schau mal eben nach den Kindern.“
Matthes döste vor sich hin. Er sah abgemagert aus. Kein Wunder, dass Rebekka das Schlimmste befürchtete. Ich räusperte mich. Matthes öffnete träge die Augen.
„Oh, mein Freund ist da … Willkommen an meinem Krankenlager.“
„Unter uns gesagt: Du siehst nicht gut aus.“
„Danke … Dafür braucht man wohl Freunde …“
Er hustete.
„Dass sie einem die Wahrheit quer übers Gesicht sagen.“
„Du scheinst Gewicht verloren zu haben, aber nicht deinen Humor. Das ist gut, denn …“
Ich nahm den Hut ab. Matthes Augen wurden groß und größer. Er flüsterte:
„Du bist hier, weil …“
„Ja, Matthes, ich bin hier, weil … ich dir etwas mitzuteilen habe.“
Er starrte mich an, als ob es nichts Anderes auf der Welt gäbe. Ich lächelte.
„Die Kraft ist zu gering. Du wirst nicht sterben.“
Rasselnd entwich ihm die Luft. Er schloss die Augen, musste wieder husten.
„Du Sauhund!“
Gerade in diesem Moment kam Rebekka herein. Erschrocken sah sie uns an. Ich setzte den Hut auf.
„Liebe Rebekka, du hörst, er ist auf dem Wege der Besserung.“
„Aber warum …?“
Sie war ganz entgeistert. So kannte sie Matthes nicht.
„Das ist nichts, Rebekka. Unter uns ist der Ton manchmal etwas deftiger.“
Rebekka ging hinüber zu Matthes. Legte ihm die Hand auf den Kopf.
„Alles in Ordnung, Matz?“
„Ja, Liebes. Unser Freund hier wollte meine Lebensgeister etwas aufrütteln. Das ist ihm gelungen.“
Er funkelte mich an. Ich lächelte ganz unschuldig zurück.
„Besser so, als dass dir jemand mit der Sense nachjagt.“
Matthes schnaufte, wollte lachen und konnte doch nur wieder husten. Ich grinste breit. Rebekka schaut von einem zum anderen.
„Männer“, sagte sie kopfschüttelnd.
Matthes kämpfte seinen Hustenanfall hinunter, sagte krächzend:
„Ja, mein Schatz, uns Männern bekommt die Luft in Darmstadt nicht. Es wird Zeit, dass wir gen Wandsbeck ziehen.“
Nach der Krankheit 1777
Ich lag und schlief; da fiel ein böses Fieber
Im Schlaf auf mich daher,
Und stach mir in der Brust und nach dem Rücken über,
Und wütete fast sehr.
Es sprachen Trost, die um mein Bette saßen;
Lieb Weibel grämte sich,
Ging auf und ab, wollt sich nicht trösten lassen,
Und weinte bitterlich.
Da kam Freund Hain: „Lieb Weib, musst nicht so grämen,
Ich bring ihn sanft zur Ruh”:
Und trat ans Bett, mich in den Arm zu nehmen,
Und lächelte dazu.
Sei mir willkommen, sei gesegnet, Lieber!
Weil du so lächelst; doch
Doch, guter Hain, hör an, darfst du vorüber,
So geh und lass mich noch!
„Bist bange, Asmus? – Darf vorübergehen
Auf dein Gebet und Wort.
Leb also wohl, und bis auf Wiedersehen!”
Und damit ging er fort.
Und ich genas! Wie sollt ich Gott nicht loben!
Die Erde ist doch schön,
Ist herrlich doch wie seine Himmel oben,
Und lustig drauf zu gehn!
Will mich denn freun noch, wenn auch Lebensmühe
Mein wartet, will mich freun!
Und wenn du wiederkömmst, spät oder frühe,
So lächle wieder, Hain!