28 - Ein Lied vom Reifen
Ein Lied vom Reifen,
Wandsbeck im Dezember
Sirach XLIII, 21:
Er schüttet den Reifen auf die Erde wie Salz.
Seht meine lieben Bäume an,
Wie sie so herrlich stehn,
Auf allen Zweigen angetan
Mit Reifen wunderschön!
Von unten an bis oben ’naus
Auf allen Zweigelein
Hängt’s weiß und zierlich, zart und kraus,
Und kann nicht schöner sein;
Und alle Bäume rundumher
All alle weit und breit
Stehn da, geschmückt mit gleicher Ehr,
In gleicher Herrlichkeit.
Und sie beäugeln und besehn
Kann jeder Bauersmann,
Kann hin und her darunter gehn,
Und freuen sich daran.
Auch holt er Weib und Kinderlein
Vom kleinen Feuerherd,
Und marsch mit in den Wald hinein!
Und das ist wohl was wert.
Einfältiger Naturgenuss
Ohn Alfanz drum und dran
Ist lieblich, wie ein Liebeskuss
Von einem frommen Mann.
Ihr Städter habt viel schönes Ding,
Viel Schönes überall,
Kredit und Geld und golden Ring,
Und Bank und Börsensaal;
Doch Erle, Eiche, Weid und Ficht
Im Reifen nah und fern –
So gut wird’s euch nun einmal nicht,
Ihr lieben reichen Herrn!
Das hat Natur, nach ihrer Art
Gar eignen Gang zu gehn,
Uns Bauersleuten aufgespart
Die anders nichts verstehn.
Viel schön, viel schön ist unser Wald!
Dort Nebel überall,
Hier eine weiße Baumgestalt
Im vollen Sonnenstrahl
Lichthell, still, edel, rein und frei,
Und über alles fein! –
O aller Menschen Seele sei
So lichthell und so rein!
Wir sehn das an, und denken noch
Einfältiglich dabei:
Woher der Reif, und wie er doch
Zustande kommen sei?
Denn gestern Abend, Zweiglein rein!
Kein Reifen in der Tat! –
Muss einer doch gewesen sein
Der ihn gestreuet hat.
Ein Engel Gottes geht bei Nacht,
Streut heimlich hier und dort,
Und wenn der Bauersmann erwacht,
Ist er schon wieder fort.
Du Engel, der so gütig ist,
Wir sagen Dank und Preis.
O mach uns doch zum heil’gen Christ
Die Bäume wieder weiß!
„Darmstadt ist anders“, sagte Matthes bei meinem ersten Besuch. Das war mir nicht entgangen. Ich hatte etwas gezögert. In Wandsbeck war es kein Problem, unbemerkt zu erscheinen. In Darmstadt konnte ich nicht einfach vor der Tür Gestalt annehmen. Das Claudius-Haus stand direkt am Stadttor. Ständig ging wer vorbei, hinaus aus der Stadt, hinein in die Stadt.
Die Erinnerung an die Kutschfahrt gab den Ausschlag. Also spazierte ich am helllichten Tage nach Darmstadt hinein. Zog den Hut vor einem eleganten Herrn, grüßte „Moin, moin“. Seine Antwort blieb ihm zwischen den Augen stecken. Ich Dorftrottel. Darmstadt war nicht Holstein.
„Du hast doch in Städten gelebt, bist kein Wandsbecker Landei“, entgegnete ich.
„Nein, mein Freund, Darmstadt ist anders anders. Du erinnerst dich an Jena? Dort regierten und regieren, so Gott will, immer noch, die verstaubten Gelehrten. Das gibt der Stadt einen würdigen Anschein, doch wir beide wissen: Es sind die Studenten, die Jena leben lassen. In Kopenhagen regiert der dänische Hof, nur vertragen die Dänen kein Zeremoniell und sind neugierig auf alles, was von Süden kommt. Hamburg ist Kaufmanns-Stadt, alles wird nach Geldwert betrachtet und doch: Kaufleute sind Männer der Tat, des Praktischen. In Darmstadt regiert das Protokoll. Ist etwas nützlich oder nicht? Ist es gut oder schlecht? Ganz egal, Hauptsache das Protokoll wird eingehalten. Wenn in Wandsbeck jemand mit Perücke ankam, lief das Dorf zusammen, denn es musste sich um eine wichtige Persönlichkeit handeln. Hier scharwenzelt jeder Hilfsbeamtenanwärter gepudert und perückiert herum. Und wenn man ihn etwas fragt, parliert er hesszösich.“
„Apropos Perücke: Wo hat Monsieur Matthés die seine?“
„Ich höre, mon ami hat sich schon angesteckt. Die Perücke ist im Schrank. Hervorzuholen jeden Sonntag und zu hoffen, dass sie mir Line nicht vom Kopf reißt. Dass sie ihren Vater auslacht, ist sowieso selbstverständlich.“
„Und nicht sehr protokollarisch, wie mir scheint.“
„Nein, das auch nicht. Aber ich bin nicht hergekommen, gut auszusehen nach hessischen Maßstäben, sondern gut zu handeln nach meinen eigenen. Mir hat man beim Antritt erklärt, die Oberlandkommission diene dem Behufe, das Los der ländlichen Bevölkerung zu bessern, alldieweil es dortens zu eigenmächtigen Handlungen der Amtspersonen zum Nachteil der Bauern gekommen sei. Wunderbar, dachte ich, das ist genau der richtige Posten für einen Landliebhaber: Hinaus zu den Bauern, fragen was Not tut, Abhilfe schaffen. Und was tue ich? Den ganzen lieben Tag sitze ich im Bureau, schreibe, ohne zu schreiben, und bin von diesem Nichtschreiben am Abend so müde und abgestoßen, dass ich nichts mehr schreiben mag. Am Sonntag traue ich mich kaum mit der Familie aufs Land, weil ich fürchte, ein Bauer käme heran, mir zu sagen, ich tue nicht, was ich soll.“
Ich musste kein Arzt sein, um zu erkennen, dass dieser Patient krank war. Ich verabreichte ein altbewährtes Mittel aus meiner eigenen Praxis: vom Schmerz ablenken.
„Und Rebekka? Wie hat sie sich eingelebt?“
„Oh, für Rebekka ist Darmstadt eine neue Welt, die es zu entdecken gilt. Die Frauen hier sind von einem anderen Schlag als die Wandsbecker Bauernfräuleins. Sie spannt uns ein Netz von Bekanntschaften, geht hier und dort vorbei. Deshalb hast du sie verpasst. Ich bewundere, wie sie es schafft, sich einzufügen. Ich halte kaum einen Darmstädter Besuch fünf Minuten durch, bevor ich unpassende Bemerkungen mache. Und natürlich genießt sie unseren bescheidenen Wohlstand, sie muss nicht mehr jeden Groschen umdrehen, bevor sie ihn ausgibt. Aber, und hier ist das große Aber: Sie träumt oft von Wandsbeck. Materiell geht es uns gut, doch tief drinnen steckt die Sehnsucht nach der Heimat. Und dann die Sache mit dem Garten. Hast du den Garten vor dem Haus gesehen?“
„Welchen Garten? Da ist kein Garten.“
„Genau. Und nun komm mit: Ich zeige dir den Garten hinterm Haus.“
Wir gingen durch den Flur. Matthes öffnete die Hintertür: Plattgestampfter trockener Boden, auf dem sich ein paar Gräser verirrt hatten.
„Auch kein Garten“, stellte ich fest.
„Wieder ein Treffer. Du solltest im hiesigen Lotto spielen. Hast du sicher mehr Glück als ich.“
„Du spielst Lotto?“
„Jetzt, wo ich es mir wieder leisten kann, warum nicht? Kennst du eine einfachere Möglichkeit, zu einem kleinen Vermögen zu kommen?“
„Wenn man gewinnt.“
„Ja, wenn … Doch um auf unseren schönen Garten zurückzukommen: Kannst du dir ein Bauernmädchen und einen alten Landumbuddler vorstellen ohne eigenen Garten und ohne ein Bänkchen zum Turteln?“
„Keine schöne Vorstellung.“
„Du sagst es. Aber du kennst Rebekka: Sie beklagt sich nicht. Wohin ich gehe, geht sie auch, wo ich bleibe, bleibt sie ebenso. Mit so einem Prachtstück von Frau darf ich eigentlich nicht wettern und tue es auch nur heimlich. Kein Wort, Freund Hain, dein Wort drauf?“
„Bien sûr, mein Wort drauf.“
Matthes kniff gepeinigt die Augenbrauen zusammen. Was konnte ich dafür? Ich bin international und im Französischen sogar weiblich: la morte.
„Keine schöne Vorstellung.”
„Du sagst es. Aber du kennst Rebekka: Sie beklagt sich
nicht. Wohin ich gehe, geht sie auch, wo ich bleibe, bleibt sie ebenso. Mit so einem
Prachtstück von Frau darf ich eigentlich nicht wettern und tue es auch nur
heimlich. Kein Wort, Freund Hain, dein Wort drauf?”
„Bien sûr, mein Wort drauf.”
Matthes kniff gepeinigt die Augenbrauen zusammen. Was konnte
ich dafür? Ich bin international und im Französischen sogar weiblich: la morte.