27 - Ich sollte recht behalten
Ich sollte recht behalten und gleichzeitig irren. Ja, es fand sich etwas. Nein, kein Verleger mühte sich um den Dichter-Redakteur. Herder war es, dessen Bemühungen schließlich Früchte trugen.
Die Landesregierung von Hessen-Darmstadt stellte eine Oberlandkommission zusammen. Und dank Herder wurde Matthes Oberlandcommisarius. Niemand wusste, was dort zu tun war, der Commisarius in spe eingeschlossen. Es kümmerte ihn auch nicht. Zunächst war der Sohn zu begrüßen und dann würde sich alles finden.
Im Herbst brachte Rebekka ein Mädchen zur Welt: Christiane Marie Auguste. Ich war nicht dabei, mir schien es nicht mehr richtig. Diese heimliche Marotte vertrug sich nicht mit unserer Freundschaft. Zum Glück musste ich auch nicht mehr zwangsweise bei einer Niederkunft Rebekkas anwesend sein.
Der Aufbruch nach Darmstadt sollte im Frühling erfolgen. Zur Überbrückung hatte Matthes sich eine Übersetzungsarbeit aus dem Englischen besorgt. Trotzdem war die Not nicht gering, bis endlich wieder ein regelmäßiges Einkommen fließen sollte. Das Plündern der Vorratskammern von frisch Verstorbenen wurde mir zur Gewohnheit. Mein Fluch galt allen Verwandten, die ihre Beute teilten, bevor der Schnitt vollzogen war.
Komisch, in allen Claudius-Biographien kann man lesen, Matthes wäre in der eigenen Kutsche nach Darmstadt umgezogen. Angeblich hätte er sich für diesen Zweck eine zugelegt. Wovon? Es stimmt, er hatte seine eigene Kutsche. Aber gekauft hat er sie nicht. Ich habe sie ihm besorgt. Das kann natürlich keiner der Biographen wissen. Sie waren nicht dabei. Ich schon. Und deshalb kann ich sagen, wie es wirklich war.
Reisen galt zu jener Zeit als nicht ungefährlich. Die Wege holprig, manch Gegend nur dünn besiedelt. Ein Radbruch verursachte nicht nur einen längeren Aufenthalt. Auch ein mulmiges Gefühl schlich sich bei den Reisenden ein.
Der Sachsenwald ist nicht weit von Hamburg. Er hatte damals einen finsteren Ruf. Allerlei Gesindel solle dort sein Dasein fristen. Das war kein Märchen: Den Mann hatte ein selbst gebastelter Wurfspeer durchbohrt. Die Frau hatte schwer zu leiden, bevor ihr die Kehle durchgeschnitten wurde. Die beiden kleinen Mädchen … Räuber mögen keine Zeugen.
Bei all dem konnte ich nichts tun, außer meiner Bestimmung folgen. Das war ich gewohnt. Und doch: Ein junges Paar mit zwei Mädchen unterwegs … etwas rührte sich bei mir. Ich gab die Bärennummer. Nicht irgendein Bär – ein weißer Bär. Ein derartiger nie gesehener Koloss aus dem Nichts schlug nicht nur die Bande in die Flucht. Er sollte auch für Erzählungen sorgen. Das Gesindel würde sich nicht mehr sicher fühlen. Vielleicht zogen sie dann lieber in die Stadt. Dort hatten sie jedoch ein größeres Risiko, erwischt zu werden.
Die Tragikomik dieses Überfalls war: Der Mann hatte die Reparatur des Radschadens beendet, als die Räuber zuschlugen. Wahrscheinlich hatten sie ihn machen lassen und auf die Kutsche spekuliert.
Die beiden Pferde schnaubten nervös. Sie konnten mich nicht sehen, sie spürten mich. Tiere sind feinfühliger als Menschen.
Ich betrachtete die Kutsche. Das Gerede vom Transporteur kam mir in den Sinn. Warum nicht? Hier würde die Kutsche niemandem mehr nutzen. Opa Nikolaus beruhigte die Pferde, schwang sich auf den Kutschbock und zog gen Wandsbeck.
Es war das erste Mal, dass ich eine längere Strecke für jedermann sichtbar durchs Land zog. Doch niemand fühlte sich von einem alten Mann bedroht. Ich musste nur freundlich grüßend den Hut ziehen. Ob Mann, ob Frau, ob Kind, alle freuten sich, mich zu sehen. Mich!
Matthes machte sich im Garten zu schaffen, als ich vorfuhr. Er öffnete den Mund. Aber die Worte weigerten sich herauszukommen.
„Grüß Gott, Herr Claudius“, rief ich vom Bock hinunter. „Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie demnächst einen Umzug planen? Das Transportunternehmen Schneider und Sense möchte Ihnen hochachtungsvoll diese Kutsche zur Verfügung stellen.“
Matthes setzte zu sprechen an. Aber die Worte kamen noch immer nicht.
„Entschuldigung. Ist er nicht Herr Claudius? Oder nur der stumme Diener?“
„Mein Gott, komm von der Straße herunter. Wenn dich jemand sieht. Wo hast du die Kutsche her?“
Ich ignorierte mein vorgebliches Alter und sprang vom Kutschbock. So wunderbar fühlte ich mich. Endlich hatte ich mal Matthes auf dem falschen Fuß erwischt.
„Matthes, hast du vergessen, dass ich Transporteur bin?“
„Komm, Freund Hain, lass das. Woher ist der Wagen?“
Schade, der Spaß war schon vorbei.
„Die Geschichte möchtest du nicht wissen. Sie ist nicht schön. Niemand wird den Wagen vermissen. Darauf hast du mein Wort. Wo ist Rebekka?“
„Bei ihren Eltern … zum Essen. Was für eine Geschichte, Freund Hain?“
„Matthes. Ich sagte: Niemand wird die Kutsche vermissen. Muss ich deutlicher werden?“
„Ein Unglücksfall?“
„Ja, sehr unglücklich.“
Ich sah, wie er mit sich kämpfte.
„Es gab keine Überlebenden?“
„Nein, Matthes, keine. Die Kutsche wäre nur in beschmutzte Hände gefallen.“
Er nickte gedankenverloren.
„Und wir könnten sie für Darmstadt …?“
„Sie ist eure. Was soll ich mit einer Kutsche?“
„Hain!“
Er kam auf mich zu, umarmte mich. Ich ließ es geschehen. Er hielt mich bei den Schultern, lächelte, hatte Tränen in den Augen.
„Mensch, Hain!“
„Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf, nicht wahr?“
„Ja, mein Freund, das ist wahr gesprochen. Doch will ich nun für die Unglücklichen beten. Fahr du die Kutsche nach hinten. Rebekka wird große Augen machen.“
Das – war ausnahmsweise untertrieben.