Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

26 - Gemächlich gingen wir ...

 

Gemächlich gingen wir Richtung Claudius-Haus. Wieder mal war alles anders gekommen als geplant. Leben eben.

„Was gibt es für Neuigkeiten?“

„Zum Beispiel das: Eine Frucht wie Ananas, die man auf Königstafeln zum Nachtisch setzen könnte.“

„Ich bin nicht gut in Rätseln … Granatapfel?“

„Nein! Asmus Band 1 und 2. Ich zitiere aus der Rezension der Deutschen Chronik.“

„Es hat ihnen nicht missfallen?“

„Ah, Freund Hain, ich glaube, wir müssen eine Berichtigung an alle Leser schicken. Du hast doch Humor. Sie sind begeistert. Man ist bereit, mir einen eigenen Platz in der zeitgenössischen Literatur zuzugestehen. Noch ein Zitat: Unversiegend ist sein Erfindungsquell, seine Laune, seine Phantasie, die eine gewöhnliche Sache so lang dreht, bis sie neu und interessant wird.“

„Das klingt nicht schlecht. Hast du es geschrieben?“

„Oh, oh, mit dir ist anscheinend heute nur gut Hühnchen rupfen. Aber ich muss gestehen, der Schreiber dieser Zeilen ist mir wohlgesinnt, hat sogar Subskriptionen übernommen. Doch andere stehen mit im Chor. Ich kann dir die Ausschnitte zeigen.“

Wir kamen an den Waldrand. Noch immer war es hell.

„Warte“, sagte Matthes. Er stützte sich mit der Handfläche an den letzten Baum. Schloss die Augen.

„So, jetzt kann es weiter gehen.“

„Was war das?“

„Ich habe mich verabschiedet und wollte hören, ob Herr Baum mir noch etwas mitzugeben wünschte.“

„Und hat er?“

„Außer dass die Bäume jemanden suchen, der einen der ihren geschädigt hat – es geht das Gerücht, mit einer Sense –, hatte er nichts mitzuteilen.“

„Matthes, du weißt gar nicht, welch unverschämtes Glück du heute hattest.“

„Glück, Freund Hain? Und ob ich im finsteren Walde wandere, fürchte ich kein Unglück. Der Herr, den du nicht kennst, ist mein Hirte. Was könnte mir da Schlimmes passieren?“

„Schon gut. Wie geht’s Rebekka und dem Linchen?“

„Beide wohlauf und Rebekka hat eine Neuigkeit für dich.“

„Für mich?“

„Ganz allein für dich.“

„Du machst es spannend, Matthes.“

„Das ist mein Metier. Nie darfst du sicher sein vor einer Überraschung. Unversiegend ist mein Erfindungsquell …“

„Du hast das wirklich nicht selbst geschrieben? Wo du es so sicher rezitierst.“

„Halt die Sense still, Freund Hain. Gönne einem armen Dichterling ein paar Worte, an denen er sich in den kalten Nächten der Verzweiflung beim Grübeln über den nächsten Vers wärmen kann.“

„Sie seien dir gegönnt.“

„Danke.“

Froh gestimmt gingen wir Seite an Seite schweigend weiter. Das Band war wieder fest zwischen uns. Kaum waren wir am Gartentörchen, wandte sich Matthes mir zu:

„Schön leise. Wer weiß, ob Line schläft. Den Fehler, Betty von draußen zu rufen, habe ich nur ein einziges Mal gemacht.“

„Dann war Sense?“

„Du sagst es, lieber Freund, du sagst es.“

Vorsichtig öffnete er die Haustür, rief leise: „Betty?“

Wie Diebe schlichen wir uns hinein. Rebekka kam aus der Schlafkammer.

„Herr Schneider! Schön, Sie wieder mal bei uns zu haben.“

„Danke. Leider musste ich etwas warten auf eine Gelegenheit in Wandsbeck vorbeizuschauen.“

Matthes mischte sich flüsternd ein: „Schläft sie?“

„Ja“, antwortet Rebekka in normaler Lautstärke, „tief und fest. Du musst deine Rücksichtnahme nicht übertreiben. Wissen Sie, Herr Schneider, seitdem ich einmal ein wenig darauf aufmerksam gemacht habe, dass er nicht mehr so hereinpoltern kann, tut er so, als ob alles jenseits des Flüstertons Sünde wäre.“

„Ein wenig, Betty? Freund Schneider sei mein Zeuge, wenn das ein wenig war, dann möchte ich ein bisschen mehr nur aus der sicheren Entfernung von einigen Meilen erleben.“

„Übertreiben alle Männer so, Herr Schneider?“

„Alle sicher nicht. Einen Dichter zu heiraten, erhöht allerdings erheblich die Gefahren.“

„Da haben Sie wohl recht. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“

„Oh, danke, ich bleibe nicht lang. Es dämmert bald. Matthes hat mich mit Neuigkeiten geködert. Sonst wäre ich nach Hamburg durchgegangen.“

„Genau“, mischte sich Matthes wieder ein, „Rebekka, du hast das Wort. Ich hole derweil die Ausschnitte.“

Ich schaute sie fragend an. Sie legte lächelnd die Hand auf den Bauch.

„Unser Sohn kommt.“

„Das ist eine Neuigkeit. Meinen Glückwunsch. Wann?“

„Oktober oder November sollte er so weit sein.“

„Und wer sagt, dass es diesmal ein Junge wird? Matthes oder dein Gefühl?“

„Unter uns gesagt“, flüsterte sie, „darf es ruhig noch ein Mädchen sein, aber Matz ist natürlich ganz sicher, dass es ein Junge wird.“

„Ah, was flüstert ihr da? Freund Schneider, ich bin äußerst enttäuscht. Kaum wende ich dir einmal den Rücken zu, schon beginnst du heimliche Verhandlungen mit meiner Allerliebsten.“

„Wann sollte ich sie sonst beginnen?“

„Auch wieder wahr. Betty, dieser Brief lag auf dem Sekretär.“

„Ja, Frau Bode hat vorhin den Brief vorbeigebracht. Sie wollte nicht bleiben, um auf dich zu warten.“

Rebekka sah Matthes herausfordernd an. Ihr Blick sagte: „Du weißt, was in diesem Brief steht, und ich weiß es auch“. Matthes wandte den Blick von ihr ab und mir zu.

„Komm, mein Freund, setzen wir uns. Ich zeige dir, was die Herren Kritikusse zu sagen haben. Den Brief kann ich später noch lesen. Der kann nicht so wichtig sein, wenn Frau Bode nicht mal warten wollte.“

Die Stimmung hatte einen deutlichen Dämpfer bekommen. Daran konnte Matthes’ Beiläufigkeit nichts ändern. Ich hätte mich gerne verdrückt, wollte ihn aber nicht um seinen Triumph bringen.

„So viel Zeit ist noch. Viel Gutes kann es ja nicht sein.“

Wir setzten uns. Matthes legte den Brief zur Seite und klappte die Mappe auf.

„Hier, hör dir das an: Er – damit meint der Schreiber den bescheidenen Boten – hat echten Humor, starken Witz und scharfe Satire. Sein Ausdruck, bis auf einzelne Worte – ein echter Kritiker findet eben immer etwas zu bemängeln –, ist fast immer drollig und launig, aber hohe Züge des Geistes und edle Wärme des Herzens strahlen überall hervor. Der Herr Nicolai in der Allgemeinen deutschen Bibliothek. Hohe Züge des Geistes: Gar nicht schlecht für einen einfachen Boten, nicht wahr?“

„Wenn du mich fragst: Ich hatte nie Zweifel an deinen Talenten, bin aber freilich kein Kenner. Was mich wundert, ist deine Ausdauer, mit der du die lobenden Kritiker verfolgst. Musst du ihn auch so viel loben, Rebekka?“

„Natürlich, ein Mann möchte so oft gelobt wie ein Hund gestreichelt werden.“

Matthes war baff.

„Ja höre sich doch einer dieses Bauernmädchen an. Schüttelt so ganz nebenbei ein Bonmot aus dem Ärmel, da wird jeder Gelehrte neidisch.“

„Ach, Matz. Sag nicht immer solche Sachen. Du bist der Mann des Wortes. Was weiß ich schon.“

„Nein, nein. Das erkenne ich neidlos an. Du kannst, wenn du willst, oder vielleicht sogar noch besser, obwohl du es gar nicht willst, im Ausdruck mit großen Geistern mithalten, die allesamt jahrelang studiert haben. Sag was, mein lieber Freund Schneider. Ist es nicht so?“

„Ich stimme zu, Rebekka. Du musst dich nicht verstecken, wenn es ums geschliffene Wort geht.“

„Danke die Herren. Mir ist aber ein Wort aus meines Kindes Mund mehr wert als alles Geschliffene.“

Matthes und ich schauten sie verdutzt an. Dann schauten wir uns an – und lachten.

„Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?“

Matthes mühte sich, wieder ernsthaft zu werden.

„Nein, Liebes. Du hast nur bestätigt, was ich gerade gesagt habe. Das machte uns frohgelaunt.“

Nun schien mir der rechte Augenblick zu gehen. Ich stand auf.

„Ich glaube, ich sollte nun los.“

„Ach, Herr Schneider, bleiben Sie doch. Matz hat noch gar nicht den Brief gelesen. Vielleicht interessiert Sie der Inhalt auch.“

Das ernüchterte Matthes wieder. Er nahm den Brief zur Hand und betrachtete ihn mit Abscheu.

„Ja, Freund Schneider. Lass uns den Brief lesen. Und dann mögest du in Frieden gehen.“

Anscheinend hatten sie sich stillschweigend auf mich als Zeugen für diesen ominösen Brief geeinigt. Also blieb ich. Doch Matthes konnte sich nicht entschließen, den Brief zu öffnen.

„Nur noch fürs Protokoll: Ja, ich gestehe, dass ich Vergnügen an den schönen Kritiken habe, und doch: Würden Sie mich verdammen, änderte das nichts. Ich schreibe, was ich schreibe, ich kann nicht anders. So viel zum Protokoll und nun der Brief.“

Er riss ihn umständlich auf. Entfaltete ihn. Räusperte sich. Las ihn. Und legte ihn wieder weg.

„Was ist?“, fragte Rebekka.

„Er ist zu kurz zum Vorlesen.“

„Aber was steht drin, Matz?“

Unter einem gequälten Lächeln sagte Matthes: „Bode bedauert, ich bin kein Bote mehr.“

„Aber das geht doch nicht. Herr Bode kann doch nicht von einen auf den anderen Tag Ersatz beschaffen“, rief Rebekka erregt.

„Sicher kann er das nicht. Er wird vorbereitet gewesen sein. Meinst du nicht auch, Freund H… Schneider?“

„So wird es sein. Gut, dass du das Buch gemacht hast. Dein Name ist in der Welt. Es wird sich etwas finden.“

„Meinen Sie, Herr Schneider?“

„Da bin ich ganz sicher. So einen Mann hätte mancher Verleger gerne im Hause.“

„Dein Wort in Gottes Ohren, mein Freund.“

„Macht euch keine Sorgen. Dieses Wort wird ankommen.“


Kommentar des Autors:

Die Kommentare zu Asmus Band 1/2 sind allesamt echt, auch die Umstände seiner Kündigung entsprechen der Überlieferung. Die Befragung des Baums hat Matthias Claudius in einer Prosaskizze erwähnt. Ein Satz, über den ich etwas mehr nachgedacht habe: „Ich kann dir die Ausschnitte zeigen“. Waren Zeitungen damals nicht zu wertvoll, als dass man sie zerschnippelt hätte? Ich meine, Matthias Claudius ist als Journalist derart mit Lesestoff eingedeckt worden, dass er schon gewohnheitsmäßig zur Schere greifen musste, um ihm Wichtiges aufzubewahren.