Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

25 - Asmus omnia sua secum portans

 

Asmus omnia sua secum portans, oder Sämtliche Werke des Wandsbecker Boten, I. und II. Teil

Das erste Kupfer ist Freund Hain. Ihm dedizier ich mein Buch, und er soll als Schutzheiliger und Hausgott vorn an der Haustüre des Buchs stehen.

Dedikation

Ich habe die Ehr Ihren Herrn Bruder zu kennen, und er ist mein guter Freund und Gönner. Hätt auch wohl noch andre Adresse an Sie; ich denk aber, man geht am besten gradezu. Sie sind nicht für Adressen, und pflegen ja nicht viele Komplimente zu machen.

’s soll Leute geben, heißen starke Geister, die sich in ihrem Leben den Hain nichts anfechten lassen, und hinter seinem Rücken wohl gar über ihn und seine dünnen Beine spotten. Bin nicht starker Geist; ’s läuft mir, die Wahrheit zu sagen, jedesmal kalt übern Rücken wenn ich Sie ansehe. Und doch will ich glauben, dass Sie ’n guter Mann sind wenn man Sie genug kennt; und doch ist’s mir als hätt ich eine Art Heimweh und Mut zu dir, du alter Ruprecht Pförtner! dass du auch einmal kommen wirst, meinen Schmachtriemen aufzulösen, und mich auf bessre Zeiten sicher an Ort und Stelle zur Ruhe hinzulegen.

Ich hab da ’n Büchel geschrieben, und bring’s Ihnen her. Sind Gedichte und Prosa. Weiß nicht, ob Sie 'n Liebhaber von Gedichten sind; sollt’s aber kaum denken, da Sie überhaupt keinen Spaß verstehen, und die Zeiten vorbei sein sollen wo Gedichte mehr waren. Einiges im Büchel soll Ihnen, hoff ich, nicht ganz missfallen; das meiste ist Einfassung und kleines Spielewerk: machen Sie 'mit was Sie wollen.

Die Hand, lieber Hain! und, wenn Ihr ’nmal kommt, fallt mir und meinen Freunden nicht hart.

Die Alten solln ihn anders gebildet haben: als ’n Jäger im Mantel der Nacht, und die Griechen; als ’n „Jüngling der in ruhiger Stellung mit gesenktem trüben Blicke die Fackel des Lebens neben dem Leichname auslöscht”. Ist ’n schönes Bild, und erinnert einen so tröstlich an Hain seine Familie und namentlich an seinen Bruder: wenn man sich da so den Tag über müde und matt gelaufen hat und kommt nun den Abend endlich so weit dass man’s Licht auslöschen will – hat man doch nun die Nacht vor sich wo man ausruhen kann! und wenn’s denn gar den andern Morgen Feiertag ist!! ’s ist das wirklich ein gutes Bild vom Hain; bin aber doch lieber beim Knochenmann geblieben. So steht er in unsrer Kirch, und so hab ich 'n mir immer von klein auf vorgestellt, dass er auf’m Kirchhof über die Gräber hinschreite, wenn eins von uns Kindern ’s Abends zusammenschauern tat, und die Mutter denn sagte: der Tod sei übers Grab gangen. Er ist auch so, dünkt mich, recht schön, und wenn man ihn lange ansieht wird er zuletzt ganz freundlich aussehen.

 

So war er halt. Die großen Geister des Landes kamen überein, die alten Schreckensbilder vom Tod zu vergessen. Das langjährige Feilen an meinem Auftritt hatte sich ausgezahlt. Aber Matthes spielte seine eigenen verschnörkelten Melodien. Und ich sollte dazu mit den Knochen klappern.

Recht hatte er ja: Besser ist es, wenn nicht jeder die Melodien des Tages mitsummt. Auch gebe ich zu, dass Matthes auf seine eigene Art wusste, wie man Aufmerksamkeit erregt. War doch die Widmung meist irgendeinem adeligen Wohltäter zugeeignet. Die mochten so etwas, auch wenn sie nicht viel vom Lesen hielten. Aber meine Reaktion damals? Ooooh! Mir wurde sozusagen das Blut rot.

Listig hatte er mir ein gut verpacktes Büchel zum Abschied in die Hand gedrückt. Wohl wissend, dass ich nicht einfach zurückkommen konnte, um meine Humorlosigkeit zu demonstrieren. Da war Rebekka vor. Also musste ich warten.

Und ich wartete. Malte mir in allen Details aus, wie ich ihn zu Tode erschrecken würde. Überraschungseffekt! Das war’s! Ein Bild vor Augen, das er seinen Lebtag nicht mehr vergessen würde. Rache konnte so schön sein.

Fast war ich ihm dankbar, dass ich die Sense wieder schwingen durfte. Wie in alten Zeiten Angst und Horror verbreiten. Ich musste ihn nur allein erwischen, fernab von anderen Menschen. Wollte keine Gerüchte in die Welt setzen. Matthes hatte eh schon die alten Bilder heraufbeschworen.

An einem schönen Sommerabend konnte Matthes nicht widerstehen. Machte einen Waldspaziergang. Allein. Niemand sonst war in der Nähe. Die Bauersleute waren froh, die Füße hoch zu legen. Keiner von ihnen wäre auf die Idee gekommen, im Wald spazieren zu gehen.

Ich war bereit.

Matthes rauchte sein Abendpfeifchen. Vielleicht ließ er sich ein paar Verse durch den Kopf gehen. Ich saß auf einem Ast, ganz Knochenmann mit Sense. Beobachtete, wie er näher kam.

30 Meter. 20 Meter. 10 Meter.

Mit einem gewaltigen Schrei ließ ich mich auf die knochigen Füße fallen. Ich richtete mich zur vollen Größe auf, lief brüllend auf ihn zu, schwang die Sense über den Kopf, als ob ich ihn damit erschlagen wollte, verfing mich Astwerk, hob ab und knallte auf den Rücken.

Das nächste, was ich hörte, war Gelächter. Ich übernahm die Gestalt von Opa Nikolaus und setzte mich auf. Matthes kniete am Boden, schlug sich auf die Schenkel und lachte. Er zeigte mit dem Finger auf mich und lachte. Tränen flossen, er schlug mit der Hand auf den Boden und lachte. Und dann passierte es.

Erst ein Zucken der Mundwinkel, dann ein Schnaufer, und dann hielt ich es nicht mehr aus: Ich lachte mit. Es war unglaublich:

Ich

konnte

über

mich

lachen.

Mir war, als ob ich mich aufgelöst hätte. Für eine kurze Zeit war ich nicht mehr da. Ich kann mich nicht erinnern: Habe ich jemanden geschnitten, während ich lachte? Es erscheint mir unvorstellbar: Sollten wirklich Minuten verstrichen sein, ohne dass jemand auf dieser Welt starb?

Als die erste Welle verebbte, fing Matthes wieder an, zeigte auf mich und ließ sich mit Schwung auf den Rücken fallen. Ich musste, ich musste mitlachen. Dann hätten wir es fast geschafft, doch Matthes giggelte und wieder brachen wir in Gelächter aus.

Schließlich hatte es doch ein Ende. Wir erhoben uns umständlich, klopften uns den Staub aus den Kleidern. Ich merkte, ich fühlte mich anders. Aller Grimm, alles Dunkle, alles Harte war verflogen. Worüber hatte ich mich aufgeregt? Ich wusste es nicht mehr. Rache? Ein nie gekanntes Gefühl.

Wieder hatte ich etwas erfahren, was mir sonst für immer fremd geblieben wäre: Diese alles auslöschende Wirkung, wenn man sich ganz dem Lachen hingab. Später stellte ich mir vor: So muss es für einen Menschen in dem Moment sein, in dem er stirbt. Alles Schwere wird von ihm genommen, er vergisst sich selbst, und der Rest ist leicht.

Nachdem er seine Pfeife aufgelesen und abgewischt hatte, fand Matthes als erstes die Sprache wieder.

„Ihr ward lange fort, Freund Hain. Mich dünkt, etwas an dem Büchel hat Euch missfallen.“

„Matthes …“

„Nein, nein, sagt jetzt nichts. Lasst mich meine bescheidenen Geisteskräfte nutzen, um es zu erraten. Ja! Das ist es. Die Erwähnung Ihres Namens in der Werther-Rezension war nicht nach Ihrem Gusto. Seit bekannt wurde, dass der große Goethe Auteur dieses Werkes ist, möchten Sie nicht in einen Topf mit ihm geworfen werden. Dafür habe ich …“

„Matthes!“

„Ah, das war es nicht? Hmmmm, nun, dann muss es … Ja. Als treuer Freund macht er sich Sorgen um meine poetische Reputation, weil ich dieses alte Gedicht ‚An eine Quelle’ aus den verblichenen Tändeleyen gebracht habe.“

„Matthes! Nun lass …“

„Einen Versuch noch! Bitte, werter Freund. Lass mich nachdenken. Die Andres-Briefe! Sie sind nicht nach deinem Geschmack?“

„Matthes!“

„Bitte, sag er was.“

„Ich wollte sagen: Danke.“

Matthes wartete.

„Das ist alles, Freund Hain? Erst unterbrichst du mich ständig und jetzt sagst du … danke?“

„Das ist es, was ich sagen wollte.“

„Gut. Nichts zu danken. Dafür sind Freunde da, gerade dafür. Und nun komm alter Knabe. Rebekka wird sich freuen, dich zu sehen. Es gibt Neuigkeiten.“


Kommentar des Autors:

Das war sie also, die Widmung an Freund Hain im ersten Band der gesammelten Werke von Matthias Claudius. Dass dieser Dichter und der Tod ein interessantes Thema sein könnten, ließ sich schon aus den Gedichten ziehen, aber diese Widmung gab für mich den Ausschlag, dass hier viel mehr drin ist. Zu der Slapstickeinlage: Ich kann nur hoffen, dass sie funktioniert hat. Da ich nie die Chance habe, das Buch ohne Vorwissen zu lesen, und Slapstick nunmal vom Unerwarteten lebt, kann ich mir keine eigene Meinung aus Lesersicht dazu bilden.