Unterm Lyrikmond

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23 - Matthes wollte mich unbedingt ...

 

Matthes wollte mich unbedingt bei der Geburt dabei haben. Offenkundig war ihm wohler, wenn er mich im Blick hatte. Meine Beteuerungen, es würde nichts passieren, halfen nicht. Also behielt ich die Claudiusse im Auge.

Es geschah an einem Tag grau in grau. Gegen Mittag sprang die Fruchtblase. Matthes brachte Rebekka zu Bett und lief zu ihrem Elternhaus hinüber. Ich wartete am Gartentor auf seine Rückkehr. Zurück ging es nicht so schnell. Er schleppte sich mit dem Geburtsstuhl ab.

„Freund Hain! Schön Sie zu sehen. Noch schöner wäre es freilich gewesen, wenn der Transporteur Schneider mir eines seiner Fuhrwerke zur Verfügung gestellt hätte.“

„Einen guten Tag, Freund Claudius. Hat er vergessen, dass das Transportgewerbe seine Erfindung ist? Für meine Transporte brauche ich keine Fuhrwerke.“

„Wahr gesprochen, der Herr. Würde er mir trotzdem das Gartentörchen öffnen?“

„Das lässt sich machen. Im Öffnen von Türen zum Garten habe ich Erfahrung.“

„Aha.“

„Nichts aha. Das ist eine menschliche Vorstellung vom Jenseits. Ich kann dazu nichts sagen.“

„Nun denn, dann lass uns den Garten Boten betreten, bevor ich auf der Stelle zusammenbreche.“

Ich öffnete ihm das Törchen.

„Du scheinst gut gelaunt, Matthes. So ist’s recht. Alles wird gutgehen.“

„Das ist keine Kunst. Dich zu sehen bereitet mir Freude, denn nun weiß ich Rebekka sicher.“

Er stellte den Geburtsstuhl ab, öffnete die Tür.

„Betty! Ich bin zurück. Bist du züchtig gekleidet? Freund Schneider ist hier.“

Rebekka kam etwas unsicheren Schrittes aus der Schlafkammer. Die Wangen erblüht, stützte sie sich gleich an der Kommode ab. Sie atmete hörbar, und dennoch lächelte sie mich an.

„Willkommen, Herr Schneider. Da haben Sie sich einen schönen Tag ausgesucht. Der Kleine will wohl heute noch die Welt sehen.“

„So sagte Matthes. Komme ich besser an einem anderen Tag?“

„Nein, bleiben Sie ruhig. Es ist noch viel Zeit. Die Wehen haben nachgelassen, Matz.“

„Wunderbar. Dein Vater ist unterwegs die Hebamme holen. Dann wird sie rechtzeitig kommen und unser Freund Schneider mag derweil als Glücksbringer dienen.“

„Kann ich Ihnen …oh.“

Sie schloss die Augen, hielt sich den Bauch.

„Nein, ich lege mich besser wieder hin. Die Wehen gehen weiter.“

„Wir kommen schon klar, Liebes. Warte, ich stelle noch den Stuhl neben das Bett. Dann kannst du schnell wechseln, sobald unser Sohn sich entschließt, die Welt zu erkunden.“

Matthes hob ächzend den Stuhl und trug ihn in die Schlafkammer.

„Bleiben Sie auf jeden Fall noch, Herr Schneider. Matz kann etwas Ablenkung brauchen.“

„Das mag wohl sein. Männer haben es auch nicht leicht bei einer Geburt. Sonst sind sie immer die Herren der Situation. Aber hier bleibt nichts, als zu warten und zu hoffen. Ich denke, ich werde Matthes noch ein bisschen Gesellschaft leisten. Und du fühlst dich gut?“

„Ja, diesmal hat alles seinen richtigen Lauf genommen, meine Mutter war sehr zufrieden. Sie sagte auch, die zweite Geburt wird leichter. Das hoffe ich sehr.“

Matthes kam zurück.

„So, Liebes, alles steht bereit. Unser Sohn kann aus dem Ei schlüpfen.“

„Danke, Matz. Auf Wiedersehen, Herr Schneider. Besuchen Sie die Familie Claudius recht bald wieder.“

„Das werde ich tun.“

Sie wandte sich zum Gehen, Matthes wollte sie stützen.

„Es geht schon, Matz. Bleib bei unserem Freund hier. Biete ihm doch einen Coffee an.“

Und behutsam, einen Fuß vor den anderen setzend, ging sie in die Schlafkammer zurück.

„Einen Coffee, der Herr?“

„Nein, lass gut sein, Matthes. Das ist eh Perlen vor die Säue werfen. Du wirst ihn wahrscheinlich noch brauchen.“

„Aber es ist doch alles in Ordnung?“

„Ja, ja. Keine Änderung. Wenn uns nicht das Dach auf den Kopf fällt, sieht es gut aus.“

Matthes schaute zum Dach hoch, rümpfte die Nase.

„Mein Freund, ich weiß nicht, ob ich derart absonderlichen Witz im Moment zu schätzen weiß.“

Wir hörten Rebekka stöhnen, schauten uns an.

„Sie kommen schneller“, stellte Matthes fest. „Hoffentlich ist die Hebamme bald da.“

„Ist sie hier aus dem Ort?“

„Ja, die alte Reschke.“

„Ah ja.“

„Du kennst sie?“

„Nicht richtig. Du weißt, Matthes, ich bin gern beim Anfang dabei. Mir ist nicht aufgefallen, dass sie Probleme produziert.“

„Nein, das wohl nicht. Sie hat nur diese Grille mit dem Händewaschen.“

Matthes imitierte die hohe Stimme der alten Dame:

„Ein Eimer heißes Wasser muss bereit stehen, junger Mann. Und saubere Tücher, sehr saubere Tücher! Ich will das Kind mit reinen Händen empfangen.“

Dann fuhr er mit seiner eigenen Stimme fort:

„Mag der Herr wissen, was das für ein Hebammenaberglaube ist, doch es scheint nicht zu schaden. Wenn ich es mir leisten könnte, würde ich trotzdem gern einen Accoucheur aus Hamburg holen lassen. Aber das ist auch unsicher. Wer weiß, ob der gerade frei ist.“

„Tja, und nun? Wie vertreiben wir uns die Wartezeit? Was macht der Bote?“

„Ich weiß nicht. Ich kann jetzt nichts Anderes tun, als zu warten.“

„Ich meine die Zeitung.“

„Ach so. Da sieht es weiter nicht so lecker aus. Ich habe Zweifel, dass es noch lange geht. Bode verliert Geld beim Boten und es ist nicht zu sehen, wie sich das bessern soll. Für die kleinen Leute sind wir nicht blutrünstig genug, was wir auch gar nicht sein dürfen, da ist Baron Schimmelmann vor, und ich würde bei einer solchen Zeitung nicht mittun, selbst wenn die Not bei uns dadurch größer würde, müsste halt etwas Anderes her. Ich vertraue ganz darauf, dass Gott mich in seinem Sinne leiten würde.“

„Musst du dich nicht sowieso umsehen, mit dem Kind dazu?“

„Ah, unterschätze den alten Claudius nicht. Ich habe bereits einen Plan.“

„Und der wäre?“

Rebekka stöhnte wieder auf.

„Wo bleibt bloß Vater Behn mit der alten Reschke? Warte mal, ich schau kurz nach dem Rechten.“

Er ging hinüber in die Schlafkammer. Ich ließ derweil meinen Blick draußen schweifen. Nichts rührte sich in Wandsbeck. Doch: Ein Fuhrwerk mit einem Mann fuhr in unsere Richtung.

Matthes kam zurück, die Miene etwas besorgt.

„Die Wehen werden heftiger.“

„Ein Fuhrwerk kommt, aber nur mit einem Mann besetzt.“

„Ach Gott. Es kann doch nicht ausgerechnet heute schon bei den Sörensens begonnen haben.“

Jetzt hörten wir das Fuhrwerk näherrumpeln. Wir gingen zur Tür.

„Matz!“

Matthes war hin und her gerissen.

„Kannst du eben schnell zu Rebekka? Ich muss hören, was Vater Behn sagt. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“

Er lief hinaus. So blieb mir nichts Anderes übrig, als zu Rebekka zu gehen. Ich klopfte an die Schlafkammertür.

„Rebekka?“

„Kommen Sie ruhig herein. Wo ist mein Mann?“

Ich betrat die schummrige Kammer.

„Er läuft Ihrem Vater entgegen.“

„Was soll das nützen?“

Ich zuckte mit den Schultern. Wollte nicht der Überbringer der schlechten Nachricht sein.

„Ist es bald so weit?“

„Nun, die Wehen kommen schneller, werden heftiger. Bald kann ich auf den Stuhl.“

Da stürmte Matthes hinein.

„Wie geht es? Hältst du noch durch?“

„Ja, Matz, wo ist …?“

Sie sah die Antwort auf seinem Gesicht.

„Es tut mir schrecklich leid, Liebes. Die alte Reschke wurde zu den Sörensens gerufen. Sie weiß jedoch, dass wir sie nun dringlich brauchen und kommt sofort zu uns, wenn es bei Sörensens geschafft ist. Dein Vater versucht es zusätzlich in Hamburg. Vielleicht haben wir dann gleich zwei Geburtshelfer hier.“

„Hamburg? So lange kann ich nicht warten.“

Darauf wusste Matthes nichts mehr zu sagen. Mir fiel nur etwas Unoriginelles ein:

„Was ist mit deiner Mutter. Kann sie nicht …?“

„Nein, Mutter ist auf Krankenbesuch in Lübeck bei Tante Gerda. Oh, Matz, ich kann doch nicht alleine …“

Matthes sah sie hilflos an.

„Es wird schon gutgehen, Bebelmus. Wir sind ja bei dir. Und Gott hat auch noch ein Wörtchen mitzureden. Alles wird gut.“

Rebekka schaute etwas zweifelnd. Dann hielt sie sich den Unterbauch und stöhnte. Sie schloss die Augen. Als sie ihre Augen wieder öffnete, sprach sie energisch. So als ob sie eine Entscheidung getroffen hätte.

„Matz, mach doch wenigstens schon mal Wasser heiß für die Hebamme. Herr Schneider kann ja eine Minute auf mich aufpassen.“

„Gut, Liebes, wird sofort erledigt.“

Schnell lief er aus der Kammer. Rebekka sah mich an.

„Wird es gutgehen, Herr Schneider?“

„Ich glaube schon.“

„Sie glauben?“

Sie sah mich ängstlich an.

„Ja, ich habe ein gutes Gefühl. Alles wird sich in Wohlgefallen auflösen.“

Sie lächelte.

„Dann bin ich beruhigt. Wenn Sie ein gutes Gefühl haben, dann muss es zu einem guten Ende kommen.“

Ich lächelte verwirrt zurück. Da platzte Matthes wieder hinein.

„Wasser ist in Vorbereitung. Geht es noch, Schatz?“

„Ja, Matz. Unser Freund ist guten Mutes, also bin ich es auch.“

„Ich sagte doch, Freund Schneider ist unser Glücksbringer. Kann ich ihn einen Moment entführen? Er kann mir beim Tragen helfen.“

„Ja, natürlich. Geht ihr nur.“

Wir verließen die Schlafkammer, gingen hinüber zur Küche.

„Freund Hain“, flüsterte Matthes, „ich habe mir etwas überlegt. Wenn es kritisch wird, können wir auf deine Hilfe rechnen?“

„Sicher, aber ich kann nichts tun. Das weißt du.“

„Vielleicht doch.“

Er sah mich an wie jemand, der eine Idee im Kopf hatte und es kaum erwarten konnte, sie auszuspucken.

„Was?“

„Du hast gesagt, du warst bei vielen Geburten dabei.“

„Und?“

„Dann musst du doch wissen, was zu tun ist.“

„Ich soll …?“

Matthes nickte energisch.

„Nein, nein, nein. Ich bin nur da, wenn das Kind schon geboren ist.“

„Aber du bist doch sicher schon zu früh gekommen und hast gesehen, wie die Dinge laufen, oder?“

„Hm, das kam vielleicht auch schon vor. So genau habe ich auf den Ablauf nicht geachtet, dass ich eine Hilfe sein könnte.“

Matthes schwieg. Stocherte im Feuer. Legte etwas Holz nach.

„Freund Hain, ich weiß, ich verlange sehr viel von dir. Und du hast schon viel für mich getan, und wenn es nicht um Rebekka ginge, dann würde ich auch nicht … Aber sieh: Sie weiß nicht, dass du keine praktische Erfahrung hast. Wenn wir sagen, du warst früher mal Arzt oder Heiler oder sonst was, dann wird sie sich nicht so allein gelassen fühlen. Sie hat Vertrauen zu dir. Irgendwie wirst du ihr helfen können, selbst wenn du …“

„MATZ! Der Stuhl!“

„Oh Gott, es geht los. Hilfst du nun, Freund Hain?“

„Ach, Matthes …“

„Bitte.“

„MATZ!“

„Gut, ich komme mit.“

Wir liefen zurück in die Schlafkammer.

„Wo bleibst du denn? Die Wehen werden ärger. Hilf mir auf den Stuhl.“

Rebekka war verschwitzt. Die Haare hingen in wilden Strähnen herab.

„Tut mir leid, Betty. Ich konnte nicht sofort loslaufen. Hier stütz dich auf mich.“

Er hievte sie in den Geburtsstuhl.

„Ich habe gute Neuigkeiten, mein Liebes.“

Da klopfte es ganz wild an der Haustür.

„Die Hebamme!“, riefen wir im Chor.

Matthes und ich stürmten hinaus. Ich hörte noch wie Rebekka „Herr …“ rief. Matthes riss die Tür auf.

„Frau Reschke. Sie sind ein Geschenk des Himmels.“

„Reden Sie nicht, junger Mann. Wie weit ist Rebekka?“

„Sie sitzt schon. Es ist allerhöchste Zeit.“

Die alte Frau Reschke wirbelte in die Schlafkammer, rief „Heißes Wasser!“ über die Schulter. Matthes eilte in die Küche. Kam mit einem Eimer zurück und sah mich glücklich an.

„Sie hat dich nicht gesehen?“, flüsterte er.

„Nein.“

„Der Kelch ist noch mal an dir vorbei gegangen, was?“

„Herr Claudius! Das Wasser!“

„Ich gehe dann besser, Matthes.“

„Ja, ich auch, sonst zerreißt mich die gute Frau.“

Wir nickten uns noch einmal zu. Matthes lief in die Geburtskammer und ich verschwand.


Kommentar des Autors:

Ich habe beim Schreiben der ersten Version immer nur ein paar Kapitel vorausgeplant, orientiert an der Biographie von Matthias Claudius. Und obwohl es so aussieht, als ob das Kapitel von langer Hand geplant war, weil ich schon zu Anfang die Anwesenheit von Freund Hain bei Geburten schilderte, muss ich zugeben, dass ich eine Geburt unter Mithilfe von Freund Hain nicht von Anfang an im Auge hat. Das hat sich glücklich so zusammengefügt.
Zwei Kleinigkeiten noch: Ist jemandem aufgefallen, dass Rebekka nun auch wie Matthes „Coffee“ sagt? Und die Sache mit dem heißen Wasser: Eine Testleserin hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass dies eigentlich ein Stereotyp ist. Was will die Hebamme damit? Das brachte mich etwas ins Grübeln, und tatsächlich: Die Segnungen der Hygiene waren damals gar nicht bekannt. Daher spricht Matthes von „Hebammen-Aberglauben“.