Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

21 - Ich hatte es nicht fertiggebracht

 

Ich hatte es nicht fertiggebracht. Wollte erst darüber nachdenken. Wie sage ich es ihm?

Damals mit Josias, das war etwas anderes gewesen. Die Verbindung mit Matthes war noch sehr lose. Ich hatte schlicht keinen Gedanken daran verschwendet, was die Nachricht auslösen könnte. Glaubte, ich tue ein gutes Werk.

Wie sollte ich ihm schonend beibringen, dass sein Erstgeborenes nicht leben würde? Kann man das überhaupt? Oder war das vergeblich? So vergeblich wie plötzlich zu erscheinen und zu sagen „Nicht erschrecken, ich bin Freund Hain“. Das hat noch nie funktioniert.

Sollte ich erst einen langen Vortrag halten? Über das Leben und Sterben? Darüber, dass man sich besser nicht zu sehr an die Dinge dieser Welt klammert? Matthes war zu schlau dafür. Das würde erst recht Alarm auslösen.

Oder der alte Trick von der guten und der schlechten Nachricht?

Alles Unsinn! Wir hatten doch diese Vereinbarung: Ich würde den Hut in der Hand haben. Matthes wüsste gleich, was los ist.

Ich musste es einfach so schnell wie möglich anbringen. Meine einzige Hoffnung war, dass die Nachricht nur langsam in ihm durchsickern würde. Vielleicht konnte ich ihn dann mit viel Gequatsche und Gerede ruhig stellen. Wo sollte ich das hernehmen? Keine Ahnung. Aber vielleicht war ich auch dazu fähig.

Wie versprochen, spazierte Matthes zu früher Stunde im Garten. Noch im Nachtgewand mit der Schlafmütze auf dem Kopf. Ich nahm den Hut in die Hand und wartete am Ende des Weges.

Als er mich erblickte, hielt er kurze inne. Er sah den Hut und – verzog keine Miene! Matthes kam näher. Und näher. Wir schauten uns in die Augen. Und dann sagte er schließlich leise:

„Freund Hain, da bist du also. Lass dich anschauen.“

„Matthes, ich muss …“

„Nein, nein, lass dich anschauen, ich möchte wissen, ob Rebekka recht hat.

„Was meinst du?“

„Pst, nicht reden, anschauen lassen. Dreh dich einmal zur Seite, damit ich dein Profil sehe.“

Völlig perplex tat ich wie gewünscht.

„Tatsächlich. Es ist wahr.“

„Was ist wahr?“

„Du siehst aus wie eine ältere Ausgabe von mir. Rebekka fragte, ob wir verwandt seien. Werde ich so aussehen, wenn ich sterbe? Ist das deine Gestalt?“

„Nein, Matthes, ich weiß nicht, wie du aussehen wirst, wenn du stirbst. Aber die Familienähnlichkeit ist kein Zufall. Ich erscheine dir in Gestalt deines Großvaters Nikolaus.“

„Mein Großvater ist der Tod?“

„Nein, Matthes. Ich bin dir so bei der Geburt erschienen. Nach meiner Erfahrung wirkt Familienähnlichkeit beruhigend.“

„Was hast du bei meiner Geburt gemacht? Es ist doch niemand gestorben.“

„Ich bin bei jeder Geburt dabei.“

„Als Vorsichtsmaßnahme, falls es etwas zu tun gibt?“

„Nein, weil ich am Anfang des Kreises dabei sein will, so wie ich am Ende dabei bin.“

„Aha, so ist das.“

Es entstand eine Pause. Nun schien der rechte Moment gekommen zu sein.

„Matthes, es tut mir …“

„Nein, warte. Was bist du von Beruf?“

„Bitte?“

„Rebekka hat mich auch das gefragt.“

„Du weißt doch, wer ich bin.“

„Natürlich weiß ich das. Aber das kann ich ihr schlecht sagen, oder? Das musst du ihr schon selbst eröffnen. Ich sagte, du bist im Transportgewerbe, was nicht ganz unpassend ist. Wenn man den alten Griechen glauben darf, transportierst du die Toten zum Flusse Styx, wo Charon der Fährmann sie übernimmt.“

„Was redest du da?“

„Ach, nichts Wichtiges. Ist das in Ordnung, dass du im Transportgewerbe bist?“

„Sicher, Matthes, aber ich muss …“

„Ich weiß. Warte. Eins hab ich noch. Weißt du …“

Er schluckte. Versuchte die Tränen zu unterdrücken.

„Weißt du, dass Rebekka sehr scharfsinnig ist? Sie sagte: ‚Das ist seltsam. Wenn Herr Schneider im Transportgewerbe ist, warum geht er dann immer zu Fuß?’“

Die letzten Worte kamen nur noch sehr undeutlich. Tränen flossen seine Wangen hinab. Er lächelte bitter.

„So scharfsinnig ist sie. Ich wusste … keine Antwort.“

Er fiel weinend auf die Knie, schlug die Hände vor Gesicht. Ich fasste ihn bei den Schultern.

„Hör zu Matthes. Sie wird nicht sterben.“

Er hörte mich nicht. Weinte schluchzend. Ich schaute mich um. Niemand war zu sehen. Ich konnte nur hoffen, dass Rebekka einen festen Schlaf hatte.

„Matthes. Bitte, Matthes, hör mich an.“

Ich schüttelte ihn. Es war zwecklos. Ich ging in die Knie, umarmte ihn. Wartete bis der heftigste Tränensturm vorbei war. Dann sagte ich ganz nah an seinem Ohr:

„Matthes, hör mich doch an. Sie wird nicht sterben.“

Er fuhr zurück.

„Nicht?“

„Nein, Matthes. Sie wird leben. Sie wird noch lange leben. Das Kind …“

„Oh, Gott. Ich dachte …“

„Nein, Matthes, nur weil ich den Hut in der Hand hab, heißt das doch nicht …“

„Nicht wegen des Hutes.“

„Warum dann?“

Er trocknete sich mit den Ärmeln des Schlafrocks die Tränen. Wir standen auf.

„Komm, Freund Hain, lass uns dort drüben auf der Bank sitzen. Ich bin völlig hinüber.“

Wir gingen zu der kleinen Bank, auf der wir gerade so nebeneinander Platz nehmen konnten.

„Ich hatte dich erwartet.“

Ich wollte nachhaken.

„Nein, sag jetzt nichts. Lass es mich Stück für Stück erzählen. Als du gestern bei ihrem Anblick überrascht warst, konnte es nicht wegen der Schwangerschaft sein. Das hatte ich dir gesagt. Auch hast du sie die ganze Zeit so bohrend angesehen. Rebekka fragte nachher, ob du erst vor kurzem eine Tochter verloren hättest, weil du sie so angestarrt hast. Ich dachte, du hättest die Zeichen erkannt, die Kraft, wie du immer sagst. Und als du so hastig aufgebrochen bist, war für mich endgültig klar, dass du mir etwas sehr Gravierendes zu sagen hattest, aber nach Schachspielerart erst mal über deinen Zug nachdenken wolltest.

Rebekka schlief recht bald, aber ich konnte nicht. Ich dachte, wer weiß, wie lange ich sie noch haben würde und setzte mich neben das Bett, versuchte selbst Anzeichen zu entdecken, doch ich sah nichts. Mir fiel eine alte Sünde wieder ein. Als junger Mann, wenn ich mich verliebte, hatte ich mir immer ausgemalt, wie es wäre, die Liebste zu verlieren. Hatte mich in meinem scheinbaren Unglück gesuhlt, bis mein Verliebtsein erloschen war. Ach, ich hatte ja keine Ahnung.

Dann griff ich zur Bibel und schlug wahllos eine Seite auf. Weißt du, die Bibel ist ein erstaunliches Werk, noch viel erstaunlicher, als man gemeinhin annimmt, denn sie enthält alle Antworten, wenn man nur fragt. Ich fand mich im zweiten Buch Mose wieder, das ich lange nicht mehr studiert hatte. Es enthält viele Vorschriften des Herrn für sein jüdisches Volk, und dort stand im 23. Kapitel der Satz, der mich dieses Mal ganz sonderlich rührte: ‚Du sollst nicht Geschenke nehmen, denn Geschenke machen die Sehenden blind und verkehren die Sache der Gerechten.’ Rebekkas Liebe war ein wunderbares Geschenk und es hatte mich blind gemacht für die Gefahren. Obwohl es mir nicht so vorkommt, ist sie doch so jung, und Gebären ist ein gefährliches Geschäft. Für mich stand fest, dass Gott meine Blindheit strafen würde und sein Geschenk zurücknahm. Es war eine gerechte Strafe, nur warum musste Rebekka darunter leiden? Nun scheint es, ich war doppelt blind und habe gesehen, was gar nicht da war. Und du bist ganz sicher?“

„Ja, Matthes. Die Kraft geht von dem Wesen in ihr aus, nicht von ihr selbst. Da bin ich ganz sicher. Ob es eine Totgeburt wird oder das Kind kurze Zeit lebt, kann ich nicht sagen. Aber sein Schicksal ist besiegelt.“

Eine ganze Weile schwieg er.

„Und was passiert dann mit ihm?“

„Du meinst, wenn es gestorben ist?“

Er nickte.

„Ich weiß es nicht. Auf dieser Seite bin ich blind. Erinnerst du dich nicht, dass ich dir das schon gesagt habe?“

„Möglich, aber es fällt mir schwer zu glauben, dass du völlig ahnungslos von Gottes Reich bist.“

„Warum? Wenn niemand mich sehen kann, den ich nicht sehen lasse, ist es dann nicht naheliegend, dass mir Gleiches geschieht?“

„Hm. Das ist ein Punkt, der bedacht sein will. Wie auch immer, ich muss Rebekka darauf vorbereiten, dass unser Sohn nicht leben wird.“

„Du willst es ihr doch nicht sagen?“

„Nein, natürlich nicht. Was soll Rebekka von mir und vor allem von dir denken, wenn ich Gewissheiten über Leben und Tod verkünde? Ich weiß noch nicht, was zu tun ist. Mit Gottes Hilfe werde ich einen Weg finden, ihr den Verlust zu erleichtern.“

Matthes stand auf, ging als ob er eine schwere Last trüge. Er drehte sich noch mal zu mir um.

„Danke, Freund Hain, deine Nachricht ist keine gute, doch mehr ist dir nicht möglich zu tun, nicht wahr?“

„Nein, Matthes, wie du weißt, bin ich nur der Bote.“

„Ja, wir Boten haben es nicht leicht.“

Matthes lächelte gequält und wandte sich wieder um. Kurz vor der Tür streifte er die gebeugte Haltung ab, richtete sich auf. Dann betrat er das Haus und schloss die Tür leise hinter sich.

Er hatte sich nicht noch mal zu mir umgeblickt. Ich saß auf der kleinen Gartenbank, schaute zum stillen Haus. Natürlich hatte er sich nicht noch mal zu mir umgeblickt. Ich bin

der Tod.


Kommentar des Autors:

Das war der erste emotionale Höhe- oder besser gesagt Tiefpunkt dieses Romans. Und wo ein erster ist, da wird ein zweiter folgen, aber erstmal geht es wieder harmlos-komisch weiter. Die Idee, sich vorzustellen, dass die Geliebte stirbt, die Matthes schildert, basiert auf einer Stelle aus einem Brief an Gerstenberg: „Der Gedanke ans Begraben einer geliebten Frau ist mir seit langer Zeit süßer gewesen als der an die erste Nacht.“