20 - Erst ließen Matthes und Rebekka sich viel Zeit ...
Erst ließen Matthes und Rebekka sich lange Zeit, dann heirateten sie plötzlich im Frühjahr. Die besondere Geschichte der Hochzeit erfuhr ich jedoch erst bei meinem Antrittsbesuch im Haus des vermählten Claudius.
Seitdem die beiden sich offiziell im Vorehestand befanden, waren meine Besuche selten geworden. Mit Matthes war nicht ernsthaft zu reden. Er schwebte in Höhen, die ich nicht kannte. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Schließlich blieb ich ganz fort. Schaute nur ab und an, was sich tat, ohne mich zu zeigen. Er schien mich nicht zu vermissen, war einfach nur glücklich.
Einen kleinen Stich gab mir das schon. Ach! Ja, sogar mehr als das. Trotzig stellte ich meine Beobachtungen ein. Sollte er doch sehen, wie er klar kam ohne mich. Meine Zeit würde kommen. Sie kommt immer.
Mein Grimm verflog. Doch ich strafte mich für mein kindisches Verhalten. Ich gab meiner Neugier nicht gleich nach, zu sehen, wie es ihm ginge.
So war es bereits Spätsommer, als ich doch wieder nach ihm schaute. Und glücklicherweise traf ich ihn alleine an. Matthes spazierte durchs Wandsbecker Gehölz.
„Freund Hain! Lange nicht mehr gesehen. Erst heute Morgen habe ich mich gefragt, wo du steckst.“
„Nun, hier bin ich. An mir hat es nicht gelegen. Ich störe ungern ein Paar in Liebeswonnen.“
„Aber Freund Hain, solange du den Hut aufbehältst, bist du ein gern gesehener Gast. Auch Rebekka frug letztens noch nach dem Herrn … wie hast du dich genannt? … Schneider? Hein Schneider, nicht wahr? Hübscher Name. Du weißt, dass wir verheiratet sind?“
„Ja, ich weiß. Kam etwas überraschend. War nicht die Rede davon, erst eine besser bezahlte Stelle zu finden?“
„Nicht nur du bist überrascht worden. Die Geschichte müssen wir dir erzählen. Komm doch mit in unsere gute Stube. Rebekka würde sich freuen, dich zu sehen. Ich erinnere mich, dass du bei eurer ersten Begegnung einen feschen Eindruck auf sie gemacht hast.“
„Ich weiß nicht, Matthes. Hältst du es für klug, dass ich meine Bekanntschaft mit ihr vertiefe?“
„Ach, Papperlapapp. Du bist Herr Schneider, ein alter Freund, der stets willkommen ist im Hause Claudius und sonst nichts.“
Ich zögerte. Die Versuchung war groß. Dann gab mir Matthes einen Klaps auf die Schulter.
„Komm, alter Freund, gehen wir.“
Und ich setzte mich in Bewegung. Was bei alten Gäulen geht, geht scheint’s auch bei mir.
Unterwegs erzählte mir Matthes vom Scheitern seiner Stellenpläne. Gerstenberg war willig gewesen zu helfen. Ebenso Herder, ein Freund aus Hamburger Tagen. Aber vergeblich. Bei einer Rektorstelle am Gymnasium in Oldenburg hatte Graf Holstein abgewunken. Ein Posten beim Kopenhagener Lotto löste sich in Luft auf. Und sonst: viele Fantastereien, doch nichts Reales. Ein bescheidener Bote sei eben schwer vermittelbar.
Kaum hatte Matthes das Gartentor aufgestoßen, als er lauthals rief:
„Betty, erhebe dich. Wir haben hohen Besuch.“
Und ganz nebenbei sagte er zu mir mit schlecht verheimlichtem Stolz:
„Sie ist schwanger, weißt du.“
„Oh, meinen Glückwunsch. Geburten mag ich.“
Er guckte etwas irritiert. Da ging die Tür auf.
„Betty, mein Liebes, schau wer hier ist: Freund Hain.“
Ich schaute ihn entsetzt an.
„Matz! Damit macht man keine Späße. Bitte, Herr Schneider, treten Sie doch ein.“
Rebekka lächelte mich an. Ich fasste mich. Da kam der nächste Schlag. Sie hatte die Kraft in sich! Zum Glück missverstand sie auch dies.
„Ja, Herr Schneider, hat Matz nichts gesagt? Ich trage einen kleinen Matthias unter dem Herzen.“
Ich kam näher.
„Meinen Glückwunsch, Frau Claudius.“
„Sagen Sie doch Rebekka. Wir sind hier nicht so förmlich.“
„Gerne, Frau … Rebekka.“
„Nun aber hinein in die gute Stube“, fuhr Matthes in unser Geplänkel.
Rebekka trat zurück. War es das Kind oder sie oder gar beide? Ich konnte es nicht eindeutig bestimmen. Vorbei an ihr ging ich ins Haus.
Der Unterschied zur Junggesellenwirtschaft war unübersehbar. Auf dem Tisch lag eine Decke statt staubiger Papierstapel. Am Fenster stand eine Vase mit Blumenstrauß. Und an den Wänden hingen Bilder und Stickereien.
„Einen Kaffee, Herr Schneider?“
„Sicher nimmt der Herr Schneider einen Coffee mit uns, Betty.“
Ich nickte nur. War zu beschäftigt, die Kraft zu orten. Rebekka ging in die Küche.
„Nimm Platz, Freund Hain, nimm Platz.“
„Matthes!“
„Schon gut, Herr Schneider, keine Scherze mehr über Ihren Namen.“
Das war nicht, was ich meinte. Doch Rebekka kam schon zurück, stellte zwei Tassen auf den Tisch.
„Sie bleiben nicht bei uns?“
Ich deutete auf die zwei Tassen.
„Doch, aber ich fürchte, ich kann nur schwarzen Kaffee anbieten. Den vertrage ich im Moment nicht. Milch und Zucker muss ich erst wieder einholen.“
Sie lächelte entschuldigend.
„Schwarzer Kaffee ist genau richtig. Ich trinke ihn gar nicht anders. Matthes sagte, eure Hochzeit wäre eine besondere Überraschung gewesen?“
Wieder ging Matthes dazwischen.
„Ja, setz dich zu uns, Betty. Nein, hol erst den Coffee. Wir müssen unserem Freund von der Hochzeit erzählen.“
„Ach, Matz. So eine große Geschichte ist das nicht, Herr Schneider. Wir haben …“
„Nanananein. Nichts verraten, Betty.“
„Sehen Sie sich das an: wie ein kleiner Junge, der etwas weiß. Besser ich hole den Kaffee.“
Rebekka ging zurück in die Küche.
„Ist sie nicht ein Traum, mein Bauernmädchen?“
„Ja, zweifellos.“
Nur wie lange noch? Ich musste herausfühlen, wo die Kraft war. Ich verfluchte mich, dass ich die beiden so lange aus den Augen gelassen hatte. Nur: Was hätte das geändert?
Rebekka kam mit der Kaffeekanne, schenkte ein und setzte sich mir gegenüber an die Längsseite des Tisches. Der Hausherr saß am Kopfende.
Ich nippte am Kaffee und betrachtete Rebekka. Sie war ein schönes Menschenkind. Die Schwangerschaft hatte sie etwas abgerundet. Ihre Augen leuchteten. Mit ihren 17 Jahren führte sie den nicht sehr reichen Haushalt und erwartete, bald Mutter zu sein. Anscheinend war sie glücklich mit ihrem Leben. Doch die Kraft war in ihr. Verdammt und verflucht!
„Alles in Ordnung, Herr Schneider?“, fragte sie.
„Ja, ja, der Kaffee ist sehr gut. Danke. Was ist nun die besondere Geschichte der Hochzeit?“
„Fängst du an oder ich?“, fragte Matthes.
„Fang du an, Matz, du hast die Vorbereitungen getroffen.“
„Nun denn. Es begab sich zu Wandsbeck anno domini 1772, dass …“
„Matz! Erzähl richtig.“
„Hach, siehst du, mein Freund. Kaum bin ich verheiratet, wird mir schon vorgeschrieben, wie ich eine Geschichte zu erzählen habe.“
Rebekka gab Matthes einen Klaps auf den Arm.
„Au! Sieh dich vor, Bauernmädchen. Ich bin ein zarter Dichter. Wenn ich zerbreche, musst du die Scherben ganz allein auflesen.“
„Matz! Nun fang endlich an.“
„Also gut. Herr Schneider, wissen Sie ob der Eigenheiten eines Königsbriefes bei einer untertänigsten Heirat?“
Ich verneinte.
„Sehr schön. Einen solchen Königsbrief habe ich mir über den Korrespondenten des Wandsbecker Boten am Kopenhagener Hof bei zuständiger Stelle verschafft. Dann lud ich zum gemütlichen Beisammensein meine Eltern, die Eltern dieser wunderschönen Elfe, meinen Brotgeber, den dicken Herrn Bode, den hoch angesehenen Dichter Klopstock und einige andere Herren ein. Und da saßen wir beisammen bei Trank und Speis und dann …“
„Jetzt darf ich?“
„Ja, Bebelmus. Jetzt darfst du.“
„Stellen Sie sich vor, Herr Schneider. Da sitzt die Gesellschaft zusammen. Da kommt der Pastor Hahn wie zufällig dazu. Ich hatte ihn eingeweiht. Ich kenne ihn ja mein Leben lang. Und dann bringt Matz das Gespräch aufs Heiraten, und ein Herr fragt, wann es denn bei uns so weit sei und da sagt Matz …“
„Jetzt! Und ich ziehe den Königsbrief aus der Schublade, der mir erlaubt, jedes schöne Bauernmädchen unter dänischer Flagge zu ehelichen ohne ein öffentliches Aufgebot. Zufälligerweise ist Wandsbeck dänisch und noch zufälligerweisiger hatte ich mich schon für ein anwesendes entschieden und …“
„Dann haben wir geheiratet. Einfach so. Meine Eltern wussten auch Bescheid. Die anderen haben erst protestiert. Es war ja niemand in feinen Sachen gekommen. Keine Geschenke waren mitgebracht. Das hatte Matz nicht bedacht. Dass wir durchaus ein paar Dinge brauchten.“
„Na, na. Es ist noch reichlich gekommen. Keiner der Anwesenden hat sich nachträglich gedrückt.“
„Es wäre mehr gewesen, hätte jeder seines offen neben die der anderen legen müssen.“
„Siehst du, mein Freund. Das hat mir gefehlt. Der Sinn fürs Praktische.“
„Da hast du wahrlich recht, Matthes. Ich bin wirklich froh, dass dir nun ab und an der Kopf gewaschen wird. Rebekka, eine bessere Frau kann ich mir für meinen Freund hier gar nicht vorstellen.“
„Danke … Au.“
Sie drückte die Hände auf den Bauch.
„Was ist, mein Schatz?“
„Er zwickt wieder. Ich glaube, ich lege mich besser wieder hin. Tut mir leid, Herr Schneider, dass ich nicht … Au.“
„Keine Ursache. Legen Sie sich nur hin. Ich wollte sowieso aufbrechen. Eigentlich sollte ich schon in Hamburg sein.“
„Auf Wiedersehen, Herr Schneider.“
Sie gab mir die Hand. Wir schauten uns in die Augen.
„Kommen Sie doch recht bald wieder vorbei.“
Es war das Kind. Ich war mir sicher.
„Gerne.“
Vorsichtig von Matthes gestützt ging sie Richtung Schlafkammer. Ich wandte mich zur Tür. Sollte ich es ihm jetzt sagen? Matthes kam zurück.
„Nun, mein Freund. Willst du wirklich schon gehen? Wir haben uns lange nicht gesehen. Du könntest mir auch …“
„Ja, ich sollte gehen. Es gibt viel zu tun.“
Ich senkte meine Stimme.
„Wann kann ich dich allein sprechen?“
„Ich habe keine Geheimnisse vor …“
„Nein, Matthes, bitte. Es gibt Dinge, die müssen unter uns bleiben.“
„Schön, wenn du meinst. Komm einfach sehr früh, ich stehe wie immer zeitig auf. Rebekka ist ein Langschläfer. Solang der Sommer sich hält, spaziere ich im Garten. Da können wir wie in den alten Zeiten ungestört sprechen.“
„Dann sehen wir uns demnächst. Achte mir gut auf Rebekka.“
„Darauf kannst du dich verlassen. Es gibt keinen Schatz, den ich sorgfältiger hüte.“
Ich ging hinaus. Als ich zurückblickte, stand Matthes am Fenster. Wir hoben beide grüßend die Hand. Dann wandte er sich ab.