19 - Wenn es nach den alten Griechen ginge ...
Wenn es nach den alten Griechen ginge, ja dann … dann könnten keine Einsamkeitsgefühle bei mir aufkommen. Schon allein wegen meiner großen Familie. Bei den Griechen hieß ich Thanatos und war nichts weniger als ein Gott. Obwohl das nichts heißt. An Göttern hatten sie keinen Mangel. Bekannt ist mein Bruder: Hypnos, der Schlaf. Und dass Nyx, die Nacht, unsere Mutter ist, hat seine Logik.
Doch wer mein Vater war und wie viele Geschwister ich hatte, da wird es schon schwer. Die einen sagen: Erobos, der Finstere, war’s. Die andern meinen, die Nacht hätte mich allein gemacht. Und Geschwister? Oijoi: Aither, Hemera, Ker (der angeblich für den gewaltsamen Tod zuständig ist, schön wär’s), Moros, Momos, die drei Schicksalsgöttinnen Klotho, Lachesis und Atropos, die zornige Nemesis, die liebevolle Philotes, Apate, Eris und der Mann fürs hohe Alter: Geras. Und das ist sicher keine vollständige Liste.
Ich habe mich nie einsam gefühlt. Auch ohne die verrückten Götter der Griechen. Jetzt hatte ich einen Freund, und? Fühlte mich einsam. Das war wie der Zorn damals, als Matthes teilnahmslos dahinvegetierte. Durch bloßes Zuschauen hätte ich nie gelernt, was diese Gefühle wirklich bedeuten.
Sein Gang mit Rebekka zu Bauer Hansen wurde ein beinahe tägliches Ritual. Natürlich schnackten die Wandsbecker. War ich bei Matthes, gab es nur ein Gesprächsthema: Rebekka. Ich ließ es ihm durchgehen, denn er glühte förmlich vor Liebe. Doch die Arbeit als Bote ging rasch von der Hand.
Nach einigen Monaten war es soweit. Sie sagte „Ja“ zur Hochzeit. Ihr Vater grummelte ein bisschen. Matthes war nicht, was er sich für seine Tochter vorgestellt hatte. Abschlagen konnte er Rebekka ihren Herzenswunsch aber nicht.
Matthes war klar, dass die Botenstelle auf Dauer keine Familie ernähren konnte. Er mobilisierte wieder Freunde und Bekannte. Die sollten ihm eine besser ausgestattete Stelle verschaffen. Aber mein Eindruck war: So richtig ernsthaft wollte er das Botendasein nicht aufgeben.
Matthes hatte sich nicht nur in Rebekka verliebt, auch in seine Rolle als Bote. Asmus nannte er sich. Erfand dazu noch einen Vetter Andres. Der bekam Briefe von Asmus, die im Blatt veröffentlicht wurden. Es war nichts Neues, dass der Zeitungstitel zur Person wurde. Neu war, wie er seinen Lesern gegenübertrat.
Oft genug las Matthes mir aus anderen Zeitungen vor. Wenn sie durften, teilten die Herren Journalisten gnadenlos aus. Sie erweckten den Anschein, als ob sie den Durchblick hätten. Dabei konnte sich jeder Trottel Journalist nennen. Nur welcher Journalist war bereit, sich einen Trottel zu nennen? Oder zumindest so zu tun, als ob er kein Wässerchen trüben könnte? Und das war Matthes’ Masche: das harmlose Landei von nebenan.
Wandsbecker Bote Nr. 1, 1772
Spekulations am Neujahrstage
’n fröhlichs Neujahr, ’n fröhliches Neujahr für mein liebes Vaterland, das Land der alten Redlichkeit und Treue! ’n fröhlichs Neujahr, für Freunde und Feinde, Christen und Türken, Hottentotten und Kannibalen! für alle Menschen über die Gott seine Sonne aufgehen, und regnen lässet! und für die armen Mohrensklaven, die den ganzen Tag in der heißen Sonne arbeiten müssen! ’s ist ein gar herrlicher Tag, der Neujahrstag! ich kann’s sonst wohl leiden, dass einer ’n bisschen patriotisch ist, und andern Nationen nicht hofiert. Bös muss man freilich von keiner Nation sprechen; die Klugen halten sich allenthalben stille, und wer wollte um der lauten Herren willen ’n ganzes Volk lästern? wie gesagt, ich kann’s sonst wohl leiden, dass einer so ’n bisschen patriotisch ist, aber Neujahrstag ist mein Patriotismus mausetot, und ’s ist mir an dem Tage, als wenn wir alle Brüder wären und Einer unser Vater der im Himmel ist, als wären alle Güter der Welt Wasser, das Gott für alle geschaffen hat, wie ich mal habe sagen hören usw.
Ich pflege mich denn wohl alle Neujahrsmorgen auf einen Stein am Weg hinzusetzen, mit meinem Stab vor mir im Sand zu scharren und an dies und jens zu denken. Nicht an meine Leser; sie sind mir aller Ehren wert, aber Neujahrsmorgen auf dem Stein am Wege denk ich nicht an sie, sondern ich sitze da und denke dran, dass ich in dem vergangnen Jahr die Sonne so oft hab aufgehn sehen, und den Mond, dass ich so viele Blumen und Regenbogen gesehn, und so oft aus der Luft Odem geschöpft und aus dem Bach getrunken habe; und denn mag ich nicht aufsehn, und nehm mit beiden Händen meine Mütz ab, und kuck h’nein.
So denk ich auch an meine Bekannte die in dem Jahr starben, und dass sie nun mit Sokrates, Numa, und andern Männern sprechen können, von denen ich so viel Gutes gehört habe, und mit Johann Huß; und denn ist’s als wenn sich rund um mich Gräber auftun, und Schatten mit kahlen Glatzen und langen grauen Bärten heraussteigen, und ’n Staub aus’m Bart schütteln. Das muss nun wohl der ewige Jäger tun, der übern Zwölften sein Tun so hat. Die alten frommen Langbärte wollen wohl schlafen, aber eurem Andenken und der Asch in euren Gräbern ein fröhlichs fröhlichs Neujahr!!!!