18 - Die Mutter bei der Wiege
Die Mutter bei der Wiege
Schlaf, süßer Knabe, süß und mild!
Du deines Vaters Ebenbild!
Das bist du; zwar dein Vater spricht,
Du habest seine Nase nicht.
Nur eben itzo war er hier
Und sah dir ins Gesicht,
Und sprach:
»Viel hat er zwar von mir,
Doch meine Nase nicht.«
Mich dünkt es selbst, sie ist zu klein,
Doch muss es seine Nase sein;
Denn wenn’s nicht seine Nase wär,
Wo hättst du denn die Nase her?
Schlaf, Knabe, was dein Vater spricht,
Spricht er wohl nur im Scherz;
Hab immer seine Nase nicht,
Und habe nur sein Herz!
Es musste schnell gehen. Improvisieren. Der Angesäuselte hob bereits den Hut zum Abschied. Rebekka war schon fast bei der Tür. Opa Nikolaus sollte es richten.
„Entschuldigung, Fräulein.“
Sie drehte sich um.
„Bitte, mein Herr.“
„Ich suche den berühmten Dichter Matthias Claudius.“
„Den Redakteur Claudius?“
„Genau. Redakteur des sicher auch bald berühmten Wandsbecker Boten.“
Sie schmunzelte.
„Nun, der berühmte Dichter Claudius des bald berühmten Wandsbecker Boten wohnt am Steindamm.“
„Höre ich etwas Skepsis, mein Fräulein?“
Sie lachte.
„Nein, mein Herr. Ich bin etwas überrascht, dass der Herr Claudius ein berühmter Dichter sein soll. Als er vor einigen Tagen hier den Schlüssel abholte, war er etwas wortkarg und schien nervöser Natur.“
„So sind die Dichter. Sehr empfindsam und verschlossen, wenn sie fremd sind. Aber ich kann Ihnen versichern: Taut er auf, können Sie sich keinen besseren Gesellschafter vorstellen. Wie komme ich denn nun zu Claudius?“
„Folgen Sie einfach dem Weg, es ist nur ein kleines Stück zu gehen. Ich bin gerade selbst noch vorbeigegangen. Aus dem Kamin steigt Rauch, also sollte er zu Hause sein. Ich bin einmal rund gegangen, weil ich das Päckchen für Bauer Hansen vergessen habe.“
„Sie gehen noch mal?“
„Ja, wir brauchen noch etwas Fleisch. Eigentlich gehe ich jeden Tag zu Bauer Hansen. Wenn ich das Päckchen morgen mitnähme, wäre auch nicht schlimm, aber ich hatte es versprochen. Ich weiß nicht, wie ich das vergessen konnte. Ich könnte über mich lachen und mich ärgern zugleich.“
„Ah, mein Fräulein, machen Sie sich wegen so einer Kleinigkeit keine Gedanken. Nehmen wir es als Wink des Schicksals. Ich muss nämlich dringend nach Hamburg. Wenn ich nun bei Claudius vorbeischaue, komme ich nicht mehr rechtzeitig weg. Ich sagte ja, er ist ein toller Gesellschafter. Könnten Sie ihm ausrichten, dass ich morgen auf dem Rückweg hereinkomme?“
„Ich weiß nicht. Störe ich den berühmten Dichter nicht bei der Arbeit?“
„Das glaube ich kaum. Claudius ist ein Früharbeiter. Morgens munter wie ein Frühlingsbach. Jetzt wird er ein gemütliches Pfeifchen rauchen nach dem getanen Werke.“
So recht wollte sie nicht. Aber einem alten Herrn etwas abschlagen?
„Nun gut, ich muss ja sowieso vorbei. Von wem soll ich ausrichten?“
„Oh. Hain äh … Schneider, ja, Schneider.“
„Hein Ä. Schneiderjaschneider? Für was steht das Ä, wenn ich fragen darf, Herr Schneiderjaschneider?“
„Nein, ich meine ja, ich meine, ich heiße nicht Schneiderjaschneider, ich heiße einfach Schneider. Wie der Schneider halt … Und nein, nicht Ä. Das Ä ist mir so herausgerutscht. Ich war etwas verwirrt. Vergesslich, Sie verstehen?“
„Oh, so schlimm. Sie vergessen Ihren eigenen Namen?“
„Was heißt vergessen. Ich war überrascht von … nun ja, ich hatte nicht damit gerechnet, ein so schönes Mädchen hier im Dorf anzutreffen.“
Das saß. Zumindest kurzzeitig.
„Dieser Herr Claudius scheint gefährliche Freunde zu haben, Herr Schneider“, sagte sie lächelnd. „Vielen Dank für das Kompliment. Ich werde ihm also ausrichten, dass Sie erst mor-gen kommen. Wann denken Sie, werden Sie bei ihm eintreffen?“
„Ich glaube, am Nachmittag. Da passt es ihm am besten, und in meinem Alter hetzt man sich nicht mehr so gerne.“
„Dann hole ich noch eben das Päckchen für Bauer Hansen und mache mich gleich auf den Weg. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag. “
„Vielen Dank, mein Fräulein. Sie haben mir sehr geholfen. Guten Tag.“
Sie ging in die Wirtschaft hinein. Ich wandte mich um und stand unschlüssig auf der Straße. In welcher Richtung lag Hamburg? Egal. Es war niemand zu sehen. Ich nahm die Abkürzung.
„Sie kommt gleich, Matthes.“
Matthes drehte sich ruckartig vom Fenster weg.
„Hain! Hast du mich erschreckt. Sie kommt zu mir? Was hast du angestellt?“
„Oh, nichts. Ich habe geworben für dich, wie es Freundespflicht ist.“
Zweifelnd schaute er mich an. Da musste noch ein Scheit aufs Feuer.
„Stell dir vor, Matthes, sie hat einen glänzenden Eindruck von dir.“
„Wirklich? Mir schien sie nicht vom Kamel gefallen.“
„Von welchem Kamel?“
„Ach, eine Bibelgeschichte. Als Rebekka ihren zukünftigen Mann Isaak, den Sohn Abrahams, zum ersten Mal sah, fiel sie vom Kamel.“
„Wie dem auch sei. Kamele habe ich keine bei Behn gesehen. Doch als sie hörte, dass du Dichter bist, war sie gleich Feuer und Flamme.“
„Oh, oh, warum hast du das erwähnt?“
„Ich sagte doch, ich habe für dich geworben. Warum darf sie nicht gleich wissen, mit wem sie es zu tun hat? Aber nun ist keine Zeit mehr. Zieh dir was über. Du gehst zu Bauer Hansen.“
„Warum soll ich in Gottes Namen jetzt zu Bauer Hansen gehen? Ich denke, Rebekka kommt gleich.“
„Nein, nicht jetzt. Wenn sie anklopft. Tu so, als ob du gerade zu Bauer Hansen gehen wolltest, etwas fürs Abendessen besorgen oder so. Sie will nämlich auch dahin. Kannst du sie begleiten und kommst ins Gespräch.“
„Mein lieber Freund Hain! Wer hätte dir das zugetraut? Nur, was soll ich mit ihr reden?“
„Ist doch egal. Sie wird an deinen Lippen hängen. Du bist Redakteur des Boten. Neuigkeiten interessieren Frauen immer. Nun mach schon, sie kommt.“
Matthes hatte kaum Mantel und Schal übergestreift, als es klopfte.
„Pst, Matthes“, flüsterte ich, „mein Name ist Schneider. Hein Schneider.“
„Was soll …?“
Es klopfte noch mal. Matthes eilte zur Tür. Ich sorgte, dass ich außerhalb ihres Sichtbereichs kam. Er riss die Tür mit Schwung auf.
„Huch, haben Sie mich erschreckt, Herr Claudius.“
„Oh, ich bitte vielmals um Entschuldigung. Das war meine Absicht nicht, Fräulein Rebekka. Eigentlich wollte ich gerade losgehen, als Sie klopften.“
„Ich komme auch nur, um auszurichten, dass Herr Hein Schneider heute nicht kommt. Er will sie morgen Nachmittag auf dem Rückweg von Hamburg besuchen.“
Matthes schwieg, versuchte die Nachricht einzusortieren.
„Sie kennen doch einen Herrn Schneider, oder?“
„Ja, ja. Ich hatte nur gar nicht ihm gerechnet. Aber gut. Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, mir seine Nachricht auszurichten.“
„Das war keine Mühe, Herr Claudius. Ihr Haus liegt auf dem Weg zu Bauer Hansen.“
„Ja, dann … nochmals danke und auf Wiedersehen.“
Ich schrie innerlich: „Matthes!“
„Ah, Moment, Sie gehen zu Bauer Hansen?“
„Ja, so sagte ich.“
„Welch ein Zufall. Ich war gerade im Begriff mich aufzumachen zum Bauern. Darf ich Sie begleiten?“
„Ja“, kam es etwas zurückhaltend, „gut, dann lassen Sie uns zusammen gehen.“
Matthes schloss die Tür. Ich ging zum Fenster. Gerade als ich hinausblicken wollte, schaute sich Rebekka um. Ich zuckte zurück. Bei der ganzen Aufregung hatte ich vergessen, meine Gestalt aufzulösen. Ich ließ etwas Zeit vergehen und guckte noch mal hinaus. Sie waren auf dem Weg. Ich schaute ihnen hinterher. Matthes gestikulierte. Rebekka sah ihn lächelnd an.
Wer hätte das gedacht? Ich, ein Kuppler in Liebesdingen. Unglaublich. Niemand würde mir so etwas zutrauen. Ich auch nicht. Und doch war es geschehen. Vielleicht ist es mit dem Leben wie mit dem Schachspiel: Was man kann, weiß man erst, wenn man spielt.
Doch plötzlich durchzog mich ein merkwürdiges Gefühl. Die Aufregung war vorbei, das Paar außer Sicht. Ich wandte den Blick vom Fenster ab. Sah die Papiere auf dem Tisch. Es war still im Haus. Auch von draußen drang kein Geräusch herein. Das war ein neues Gefühl. Ich fühlte mich – einsam?