Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

17 - Am Tag nach der Operation Bote ...

 

Am Tag nach der Operation Bote war ich wieder bei ihm. Es war ein sonniger Tag. Klar und kalt. Gemeinsam starrten wir aus dem Fenster. Warteten, um einen Blick auf die sagenumwobene Rebekka zu erhaschen.

„Heute kein Bote?“

„Nein, heute wird gedruckt. Bode wollte für die erste Ausgabe besonders viel Vorlauf haben. Die nächste muss erst Montagmittag fertig sein.“

„Du schaffst das?“

„Ja, Freund Hain. Ich will und werde das schaffen. Es gibt in Wandsbeck jemanden, den ich nicht missen möchte, wie du weißt.“

„Und du meinst, sie kommt hier vorbei?“

„Bis jetzt ist sie noch jeden Tag vorbeigekommen. Wandsbeck ist nicht sehr groß.“

„Hast du mit ihr noch mal gesprochen?“

„Nein, habe ich nicht. Was soll ich tun? Aus dem Haus rennen und ihr meine Liebe gestehen?“

„Das wäre ein Anfang.“

Für ein Sekündchen wandte er den Blick vom Fenster ab mir zu.

„Freund Hain, du bist ein lieber Kamerad, aber ich glaube, von Liebesdingen verstehst du nicht allzu viel. Ich kann ihr nicht einfach an den Hals springen, obwohl ihr Hals so wunderschön schlank und weiß ist, zum Liebkosen, Freund Hain, zum Liebkosen.“

„Gut, Freund Matthes, zugegeben, das ist nicht mein Spezialgebiet. Aber aus dem Fenster starren, bringt dich das weiter?“

Wieder bekam ich ein Blicksekündchen ab. Diesmal deutlich defensiver.

„Ich weiß nicht, wie anfangen. Will’s nicht verderben.“

„Geh hinaus und wünsch ihr was. Wie man das so macht: Gesundheit, Liebe, einen würdigen Tod oder Ähnliches.“

Matthes zog die Augenbrauen hoch.

„Vielen Dank für Eure Hilfe, Freund Hain. Das ist nicht die Zeit für Scherze.“

„Ich scherze nicht.“

„Genau das habe ich befürchtet.“

Wir schwiegen eine Weile.

„Da kommt ein Mädchen die Straße herauf, Matthes. Ist sie das?“

„Wo? Wo?“

„Warte noch.“

„Wie kannst du sie sehen?“

„Matthes. Ich sehe vieles und bin an vielen Orten. Ich muss dich nicht erinnern, wer ich bin.“

Das dämpfte ihn ein wenig bis …

„Da ist sie. Los, weg vom Fenster.“

„Warum? Jetzt, wo sie …“

Er zerrte mich vom Fenster.

„Manchmal, Freund Hain, manchmal weiß ich wirklich nicht. Dünkt es ihn nicht schlechter Stil zu sein, wenn wir unsere Nasen an der Scheibe platt drücken, während die Holde vorübergeht, damit sie auf jeden Fall bemerkt, dass sie beobachtet wird? Soll sie von uns denken, wir seien Plattnasenäffchen? Von hier aus können wir sie sehen, ohne dass sie uns sieht. Glaube mir, das ist besser so.“

„Hm, die Liebe ist komplizierter, als ich dachte.“

„Da sagst du was, Freund Hain.“

Und dann war ich vergessen. Wie hypnotisiert folgte er der Gestalt draußen auf dem Weg. Nicht, dass von der Stube aus viel zu sehen gewesen wäre: Ein Mädchen mit Kopftuch dick eingepackt gegen die Kälte mit einem Korb in der Hand.

Doch ich konnte näher ran. So nah wie Matthes gern gekonnt hätte. Sie war ein junges Ding. Ein hübsches Gesicht. Vornehme Blässe mit einem leichten rosa Ton. Ihre Augen, ja, ihre Augen: ein wunderbares Blau. Sie schien innerlich zu lächeln, gleichzeitig etwas angespannt. Im Korb war nichts drin.

„Ist sie nicht ein wenig jung?“

„Ach. Was spielt das für eine Rolle. Achtzehn ist sie bestimmt. Und glaube mir, sie verhält sich reifer als ihr Alter.“

Später stellte sich raus, dass sie erst 16 war. Aber mit der Reife, das stimmte. Würde trifft es noch besser. Auch wenn sie gern scherzte, wie ich noch merken sollte.

Sie verschwand aus unserem Stuben-Blickfeld. Matthes traute sich wieder ans Fenster. Folgte ihr mit einem Blick so sehnsüchtig, wie manch alter Mensch sich nach mir sehnt.

„Ich gehe hinterher, Matthes. Mal schauen, wo sie hin will.“

„Nein, nein, nein, das halte ich für keine gute Idee.“

„Warum? Sie sieht mich doch nicht, ich folge ihr schon.“

„Du folgst ihr schon?“

„Ja.“

Einen Augenblick verwirrte ihn meine Anwesenheit.

„Ach, ja, dann sei es. … Und?“

„Sie biegt rechts ab. … Hinter der Mühle biegt sie noch mal rechts ab. … Ist das die Behnsche Wirtschaft, auf die sie nun zugeht?“

„Woher soll ich das wissen? Ich sehe nicht, was du siehst.“

„Ja! Da kommt ein Mann heraus. Etwas wackelig auf den Beinen. Hebt den Hut. Sie bleiben stehen, sprechen miteinander. Matthes! Weißt du was?“

„Was ist?“

„Der Korb.“

„Was ist mit dem Korb?“

„Er war leer, als sie hier vorbeiging. Er ist immer noch leer, obwohl sie gleich zu Haus ist.“

„Ja, und?“

„Matthes! Verstehst du denn nicht? Der Korb ist nur Tarnung. Sie wollte nirgendwo etwas holen. Sie wollte hier vorbeigehen.“

„Du meinst …?“

„Genau das meine ich. Die Liebe ist einfacher, als man denken sollte. Hör zu, ich habe eine Idee. Sie braucht einen Vorwand, um hier anzuklopfen.“

„Was willst du tun?“

„Ich schicke sie vorbei.“

„Nein, du …“

Weg war ich.


Kommentar des Autors:

Ob Matthias Claudius gegenüber Frauen tatsächlich schüchtern war, kann ich nicht wirklich sagen. Es gibt jedoch Indizien, wie z.B. das Gedicht, das er im 8. Kapitel Freund Hain vorliest oder sein für damalige Verhältnisse fortgeschrittenes Alter (über 30!) bei seiner Heirat. Für das Gegenteil gibt hingegen keine Hinweise.