Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

16 - Wandsbecker Bote

 

Wandsbecker Bote 1774, Nr. 169:

Die Leiden des jungen Werthers
Erster und zweiter Teil. Leipzig, in der Weygandschen Buchhandlung. 1774.

Weiß nicht, ob’s ’n Geschicht oder ’n Gedicht ist; aber ganz natürlich geht’s her, und weiß einem die Tränen recht aus’m Kopf herauszuholen. Ja, die Lieb ist ’n eigen Ding; lässt sich’s nicht mit ihr spielen, wie mit einem Vogel. Ich kenne sie, wie sie durch Leib und Leben geht, und in jeder Ader zuckt und stört, und mit’m Kopf und der Vernunft kurzweilt. Der arme Werther! Er hat sonst so feine Einfälle und Gedanken. Wenn er doch eine Reise nach Pareis oder Peking getan hätte! So aber wollt er nicht weg von Feuer und Bratspieß, und wendet sich so lange dran herum, bis er kaputt ist. Und das ist eben das Unglück, dass einer bei so viel Geschick und Gaben so schwach sein kann, und darum sollen sie unter der Linde an der Kirchhofmauer neben seinem Grabhügel eine Grasbank machen, dass man sich drauf hinsetze, und den Kopf in die Hand lege, und über die menschliche Schwachheit weine. – Aber, wenn du ausgeweinet hast, sanfter guter Jüngling! wenn du ausgeweinet hast; so hebe den Kopf fröhlich auf, und stemme die Hand in die Seite! denn es gibt Tugend, die, wie die Liebe, auch durch Leib und Leben geht, und in jeder Ader zuckt und stört. Sie soll, dem Vernehmen nach, nur mit viel Ernst und Streben errungen werden, und deswegen nicht sehr bekannt und beliebt sein; aber wer sie hat, dem soll sie auch dafür reichlich lohnen, bei Sonnenschein und Frost und Regen, und wenn Freund Hain mit der Hippe kommt.

 

Ein paar Tage nach Weihnachten schaute ich bei Matthes vorbei. Erwartet hatte ich einen emsig arbeitenden Redakteur. Die erste Nummer sollte doch etwas Besonderes sein. Zu sehen bekam ich ein traumversunkenes Häufchen Elend, das aus dem Fenster starrte – ohne etwas zu sehen.

„Was machst du da?“

Er schreckte nicht mal auf, als ich ihn von hinten ansprach.

„Ach, Rebekka“, hauchte Matthes hervor.

„Was?“

Keine Antwort.

Ich schaute mich um: Auf dem Tisch lagen Blätter mit Notizen, Briefe – einige ungeöffnet –, Zeitungen aus Deutschland, Dänemark, England und Frankreich ohne erkennbares System gestapelt.

„Wie weit bist du mit dem Boten?“

„Ach, Rebekka.“

„Wer ist Rebekka?“

„Ach, ...“

„Ja, schon gut. Versuch es doch mal mit Details. In ganzen Sätzen bitte.“

Folgende Geschichte operierte ich Stückchen für Stückchen aus ihm heraus:

Es war beim Umzug passiert. Der Schlüssel für sein Häuschen am Steindamm sollte bei Zimmermann Behn hinterlegt sein. Erst hatte Matthes am Behn-Haus angeklopft. Niemand antwortete. Er ging zur angebauten Wirtschaft, die der Zimmermann nebenbei betrieb. Klopfte dort. Von innen rief jemand: „Geschlossen“. Er klopfte noch mal. Schritte. Die Tür ging auf: Rebekka.

Nachdem er sich vom ersten Schock erholt hatte („Ein Blitzschlag ging durch mein Herz. Ich dachte, ich würde ohnmächtig.“), brachte er sein Anliegen vor. Stotternd vermutlich. Rebekka war die Tochter des Zimmermanns. Die Eltern waren außer Haus, aber sie wusste, wo sich der Schlüssel befand.

Das Kästchen mit dem Schlüssel war dummerweise verschlossen. Matthes wollte schon den Rückzug antreten. Doch Rebekka ließ ihn nicht. Besorgte sich aus Vaters Werkstatt passendes Werkzeug und stemmte das Kästchen auf.

Ich glaube, dieses resolute Alle-Hebel-in-Bewegung-Setzen für einen Fremden weichte sein Herz vollends auf. Und sein Hirn erstarb, als sie ihm mit einem Lächeln den Schlüssel überreichte.

„Willkommen in Wandsbeck“, soll sie dazu gesagt haben.

„Diese Augen, dieses Lächeln. Himmel!“, sagte Matthes mindestens dreimal zu mir.

„Was ist mit dem Boten?“, warf ich ein.

„Der Bote?“

„Ja, der Wandsbecker Bote. Zeitung, Matthes, Beruf, Lebensunterhalt. Ohne Bote kein Wandsbeck, ohne Wandsbeck keine Rebekka.“

„Ach, … der Bote.“

„Ja, Matthes, wann musst du abgeben?“

„Heute Abend.“

„Heute Abend?“

Zweifelnd schaute ich das Gewirr auf dem Tisch an.

„Und wie weit bist du?“

„Ach, Re…“

„Mach mich nicht wahnsinnig. Wenn Bode dich gleich wieder hinausschmeißt, kannst du Rebekka vergessen. Los, Matthes, an die Arbeit. Rebekka ist ein Ding von morgen. Heute ist der Bote dran. Ich helfe dir so gut ich kann. Aber wir müssen jetzt anfangen. Was ist das hier?“

Es sah aus wie ein Gedicht:

Ich bin ein Bote und nichts mehr,
Was man mir gibt, das bring ich her,
Gelehrte und polit’sche Mär;
Von Aly Bey und seinem Heer,
Vom Tartar Chan, der wie ein Bär
Die Menschen frisst am Schwarzen Meer
(Das ist kein angenehmer Herr),
Von Persien wo mit seinem Speer
Der Prinz Heraklius wütet sehr.

Und so weiter und so weiter.

„Ein Gedicht, um die Leser zu begrüßen.“

„Das ist nicht dein Ernst.“

„Doch, doch, es ist auch schon halb fertig.“

„Halb?“

„Ja, etwa 20 Zeilen brauche ich noch.“

„Nun, du bist der Dichter. Du musst wissen, was du tust. Wo sind die Meldungen?“

„Irgendwo … da.“

Er deutete ungefähr auf den Zeitungsstapel und die herumliegenden Briefe.

„Du hast noch nichts herausgesucht?“

„Ja, ich … es war nicht viel Zeit. Weihnachten war ich in Reinfeld. Und äh …“

„Ja, schon gut. Ich weiß: Rebekka. Und die gelehrten Sachen?“

„Ich habe alle Freunde angeschrieben, aber niemand hat etwas eingeschickt.“

„Und selber …?“

Er guckte mich hilflos an.

„Also gut. Lass mich überlegen … Hier ist der Plan: Schreib dein Gedicht fertig. Ich kümmere mich um die Meldungen. Und für die gelehrten Sachen … Schreib halt was über die Gelehrten, die so unzuverlässig sind.“

Und so geschah es. Matthes schrieb sein ellenlanges Gedicht, das den Ton setzte. Ich füllte knapp zwei Seiten mit Meldungen: Triviales vom Kopenhagener Hof. Streitigkeiten zwischen Parlament und König in Frankreich. Eine zwei Monate alte Nachricht vom türkisch-russischen Krieg. Diplomatische Verwicklungen zwischen Spanien und England.

Die Arbeit an der ersten Botenausgabe schaffte es, Matthes für kurze Zeit von seinem Herzeleid abzulenken. Zum Schluss ging es sogar recht flott mit den Gelehrten:

Wandsbecker Bote Nr. 1, 1771

Gelehrte Sachen

„Aber ich habe heute keine. Die Gelehrten sind nachlässige Leute, ich habe seit dem letzten Kriege viel Verkehr unter ihnen gehabt, und ich habe auch heute etwas mithaben sollen, aber es hat mir keiner nichts gegeben …”

So wurden wir rechtzeitig fertig. Der Herr Bode soll etwas komisch geguckt haben wegen des Gedichts und des Lückenfüllers. Aber die Nummer eins konnte pünktlich erscheinen. Das war das Wichtigste.

Im Rückblick erscheint es kurios. Matthes stand vor dem entscheidenden Schritt seiner Karriere als Literat. Der Wandsbecker Bote sollte ihn ein Leben lang begleiten. Und doch wäre er fast am Start auf den Bauch gefallen. Weil ihm etwas wichtiger war als sein Beruf, als die Literatur oder ganz pathetisch als sein eigenes Leben: Rebekka.

Übrigens: In der Werther-Rezension erwähnte mich Matthes zum ersten Mal öffentlich. Nun ja, viel Öffentlichkeit hatte der Wandsbecker Bote auch nach drei Jahren nicht. Aber ein paar kluge Köpfe haben ihn schon gelesen. Ich nahm es als späten Dank, dass ich ihn vor der ersten Ausgabe vom Spieß geholt hatte.

Noch ein Übrigens: Ist jemandem aufgefallen, dass bei der Rezension der Autor des Buches fehlt? Der Werther ist tatsächlich in der ersten Auflage ohne Angabe des Verfassers veröffentlicht worden. Ich schätze, Goethe wird etwas seltsam geguckt haben bei dieser Rezension.


Kommentar des Autors:

Die Schlüsselgeschichte soll sich gemäß der Claudius-Familienüberlieferung so in etwa zugetragen haben, musste ich also nicht erfinden.