Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

15 - Letztlich brachte Klopstock ...

 

Letztlich brachte Klopstock Matthes in die Zeitungsbranche. Er war einer derjenigen, die Matthes wegen Übersetzungsarbeiten angeschrieben hatte. Klopstocks Vetter in Hamburg namens Polykarp August Leisching war Herr über zwei Zeitungen: die Hamburgische Neue Zeitung und die Adreß-Comptoir-Nachrichten. Und gerade brauchte er jemanden, der Artikel aus englischen Blättern verwerten konnte. Matthes wurde Journalist. Nach einem zwei Jahre dauernden Studium in der Freund-Hain-Leihbücherei zu Reinfeld trat er seine neue Stelle in Hamburg an.

Matthes hatte in den zwei Jahren Wort gehalten. Er arbeitete hart an seiner Lyrik, um eine eigene Stimme zu finden. Vieles landete im Feuer. Doch einige Texte blieben. Sie bildeten die Basis für spätere Gedichte. Matthes hörte eigentlich nie auf, an einem Gedicht zu arbeiten, selbst wenn es veröffentlicht war. Vor der nächsten Veröffentlichung hat er es noch mal verfeinert.

Für Übungszwecke entwickelte Matthes eine eigene Methode. Er nahm anderer Leute Gedichte, formte sie so lange um, bis sie seine eigene Stimme hatten. Sein berühmtestes Gedicht ist das beste Beispiel dafür. Die Vorlage lieferte Paul Gerhardt:

Der Tag ist nun vergangen,
Die güldnen Sterne prangen
Am blauen Himmelssaal;

Bei Matthes klingt das bekannterweise besser:

Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;

Auch am Schluss ist die Verwandtschaft klar zu erkennen. Matthes hat jedoch zwei Strophen zusammengefasst.

Paul Gerhardt:

Nun geht, ihr matten Glieder,
Geht hin und legt euch nieder,
Der Betten ihr begehrt;
Es kommen Stund und Zeiten,
Da man euch wird bereiten
Zur Ruh ein Bettlein in der Erd.

Auch euch, ihr meine Lieben,
Soll heute nicht betrüben
Ein Unfall noch Gefahr.
Gott lass euch selig schlafen,
Stell euch die güldnen Waffen
Ums Bett und seiner Engel Schar.

Matthes:

So legt euch denn, ihr Brüder,
In Gottes Namen nieder;
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott! mit Strafen,
Und lass uns ruhig schlafen!
Und unsern kranken Nachbar auch!

Wie Matthes das gemacht hat, dass seine Version so viel besser klingt, weiß ich nicht. Nur eins weiß ich sicher: Dieses Herunterholen von Gott und seinen Strafen zum kranken Nachbarn in der allerletzten Zeile, das konnte nur er.

Nach der ersten Begeisterung für die neue Aufgabe in Hamburg wurde Matthes selbst etwas heruntergeholt. Das Schreiben von Schiffsmeldungen, Wetterdaten, Börsenberichten, Lotterieankündigungen, lokalen Anekdoten und Unglücksfällen war nach einer Eingewöhnungsphase nicht sehr fordernd. Für literarische Kostproben gab es kaum einmal Platz. Klopstock-Vetter Leisching hatte auch nicht viel dafür übrig.

Etwas entschädigt wurde Matthes durch die Begegnungen mit interessanten Leuten: Lessing, Herder, der Hamburger Bach. Klopstock stieß aus Kopenhagen hinzu. Auch sein alter Freund Gerstenberg ließ sich mal blicken. Und mit einem gewissen Herrn Bode, Drucker und Verleger, wurde er ebenfalls bekannt. Das war natürlich ein Fortschritt gegenüber dem Reinfelder Kreis aus Vater, Mutter, Brüder und Freund Hain.

Wieder hielt Matthes zwei Jahre eisern durch. Doch dann war es genug als Adreß-Comptoir-Nachrichten-Schreiber. Es war so viel genug, dass er kündigte, ohne etwas Neues in Aussicht zu haben.

Zum Glück suchte bald darauf der dicke Herr Bode einen Mann, der ihm eine Zeitung zusammenschreiben konnte. Der Wandsbecker Bote sollte zu Neujahr das erste Mal erscheinen. Zu welchem Neujahr? Ich habe nachgeforscht: Neujahr 1771 war’s. Kurz vor Weihnachten zog Matthes nach Wandsbeck um.

Zuerst war er ganz entflammt für das Projekt. Bode ließ ihm freie Hand, so dass er hoffen konnte, seine eigenen Ideen zu verwirklichen. Ihm schwebte ein launig-naiver Kommentarstil vor. Doch dann raubte ihm ein kleines großes Problem den Verstand. Ein Problem, mit dem weder er noch ich gerechnet hatten. Es hatte einen Namen:

Rebekka.


Kommentar des Autors:

Das „Abendlied“ lässt sich sogar noch auf einige Gedichte mehr zurückführen. Trotzdem ist die Methode, die Matthias Claudius zum Üben angewandt haben soll, eine Erfindung von mir. Was nicht heißt, dass man auf diese Art nicht deutliche Fortschritte beim Schreiben von Gedichten machen könnte. Unbewusst imitiert man eh zuerst Dichter und Gedichte, die irgendwo im Hinterkopf hängen geblieben sind.