Unterm Lyrikmond

Gedichte lesen, schreiben und interpretieren

14 - Nach der Partie ...

 

Nach der Partie schauten wir uns die Alternativen für Weiß und Schwarz an. Post-Mortem-Analyse heißt das beim Schach. Wir kamen vom Hundertsten ins Tausendste und zu keinem Ergebnis. Die Zahl der möglichen Spielverläufe ist einfach zu groß. Theoretisch eine 10 mit über 100 Nullen dran. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass Partien exakt gleich sind.

Exakt gleich war sie nicht, die Partie, die ich viele Jahre später in einem aufgeschlagenen Schachbuch fand. Es lag auf der Brust eines russischen Emigranten im portugiesischen Estoril. Im Schlaf gestorben. Die Partie Hamppe gegen Meitner, gespielt in Wien, war verblüffend ähnlich. Es fehlte die Zugwiederholung zu Beginn, und Weiß ließ sich natürlich nicht matt setzen. Aber sonst war alles da: alle Opfer, alle Winkelzüge. Das Brett auf dem Nachttischchen des Russen zeigte die Schlussstellung. Er ist glücklich gestorben.

Als die Familie Claudius vom Gottesdienst zurückkehrte, vereinbarten wir noch schnell, einen Kriegsrat zu halten. Matthes setzte ein erstes Zeichen. Ab sofort wollte er stets früh raus aus den Federn. So dass wir uns leise, aber ungestört austauschen könnten. Tatsächlich entwickelte er sich zu einem legendären Frühaufsteher: Putzmunter zu Zeiten, in denen kein geistiges Leben zu existieren pflegte.

Unsere Strategie war dreiteilig. Teil eins: Matthes wollte noch mal Freunde, Verwandte und Bekannte anschreiben. Ziel: Eine Stelle im Staatsdienst, die ihm Zeit zum Schreiben ließ. Teil zwei: Bis es so weit wäre, sollte er die Zeit nutzen, um sich als Dichter weiterzuentwickeln. Teil drei: Matthes wollte seine Nachahmerqualitäten nutzen, um vielleicht auf dem Gebiet der Übersetzung etwas hinzu zu verdienen. Dazu musste er seine Sprachkenntnisse erweitern.

Beim letzten Punkt hatte Matthes zuerst Bedenken:

„Ich bräuchte Bücher, Freund Hain. Die Bibliothek meines Vaters ist für ein derartiges Projekt nicht ausgestattet. Und ihn um Geld angehen, ohne feste Aussicht auf Erfolg, möchte ich auch nicht.“

„Was bräuchtest du?“

„Wörterbücher, Grammatiken und natürlich Originalwerke.“

„Hm, ich komme viel herum. Es sterben in aller Herren Länder Menschen mit großen Bibliotheken.“

„Du willst die Bücher doch nicht stehlen?“

„Nein, natürlich nicht. Ich nehme nur, worauf niemand Anspruch erhebt. Du weißt doch, Matthes, die Erben sind oft gierig, aber nicht wissbegierig. Bücher sind für sie nur wertloser Plunder. Wie häufig habe ich das gesehen: Bücher, die in Schuppen vermodern oder gar als Brennmaterial dienen. Es wä-re eine gute Tat, sie vor einem solchen Schicksal zu bewahren.“

Matthes guckte etwas misstrauisch. Aber gegen meinen dienstbeflissenen Opa-Nikolaus-Blick kam er nicht an.

Die Sache gestaltete sich allerdings nicht so einfach, wie ich gedacht hatte. Mein Premierenauftrag lautete, die beiden ersten Bände von „The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman“ zu besorgen.

Zuerst schien es, als hätte ich das große Los gezogen. Sir Toby Winterbottom war offensichtlich ein Büchernarr. Das Schlafzimmer sah aus wie eine Bibliothek, die wegen Überfüllung schließen musste. Seine Frau Sophie hatte sich ein Plätzchen freigemacht, sie strickte an einem Socken oder Pullover. Und jedes Mal, wenn die Uhr ein Viertelstündchen schlug, fragte sie:

„Are you already dead, Sir Toby?“

„No, I’m not“, krächzte Sir Toby dann aus den Kissen.

„Oh, I’m sorry“, schloss Mrs. Sophie die Prozedur.

Kurz bevor es Zeit wurde, den Schnitt zu setzen, fand ich Tristram Shandy. Ich erschien Sir Toby als sein niederkartätschter Lieblingsadjutant Willy Wadman. Nur ohne die Löcher. Der gewünschte Effekt trat ein. Lächelnd spulte Sir Toby sein Leben ab.

Gleich danach zog ich die Tristram Shandy-Bände vorsichtig aus dem Regal, als ein markerschütternder Schrei mich – normalerweise würde man sagen zu Tode – erschreckte. Offenbar hatte Mrs. Sophie Winterbottom entdeckt, dass sie nun Witwe war. Ich schaute mich um. Nichts dergleichen. Sie zeigte mit dem Finger auf mich. Wie konnte sie …? Da wurde die Tür von einem Diener aufgerissen.

„The books“, sagte zitternd Mrs. Winterbottom, „the books!“

Der Diener schaute in meine Richtung, erbleichte. Ich ließ die Bücher fallen und verschwand.

Was war schief gelaufen? Sie konnten mich doch nicht sehen. Und genau das war das Problem: Die Bücher hatten in der Luft geschwebt. Ein Anfängerfehler, der sich nicht wiederholen sollte. Die Tristram Shandy-Bände fand ich schließlich bei einem Admiral von Schneider. Die hohen Militärs hatten damals anscheinend viel Zeit zum Lesen.

Matthes hat nie gefragt, woher die Bücher kamen, wenn ich prompt lieferte. Sobald er eins durch hatte, drückte er es mir in die Hand:

„Hier, Freund Hain, vielleicht weißt du jemanden, der es gebrauchen kann.“

Ich schätze, das war seine Art zu sagen: Bring bitt’schön das Buch wieder dahin, wo es hingehört. Die Geschichte von den Waisenbüchern hat er wohl nicht ganz geschluckt.


Kommentar des Autors:

Dieses Kapitel enthält zwei Anspielungen: Der russische Schachweltmeister Alexander Aljechin starb im portugiesischen Estoril. Und Mrs. Sophie Winterbottom hat natürlich eine äußerst dezente Verbindung mit „Dinner for one“.