12 - Es war schon seltsam
Es war schon seltsam. Oft genug hatte ich das gesehen: Die Frau erschlagen, der Mann erstochen. Wildeste Gewalt zwischen Menschen, die sich eigentlich liebten. Dass Gefühle so weit hin und her ausschlagen können. Nun hatte ich es zum ersten Mal selbst erlebt, war völlig aus dem Gleichgewicht geraten.
Der Zorn verflog so rasch, wie er gekommen war. Fast wäre ich sofort umgekehrt. Auch mein Bluff war mir unangenehm. Was wusste ich schon über meinen Auftraggeber? Unter Freunden sollte so etwas auch im Ernstfall nicht vorkommen. Doch es war eine Entscheidung gefallen, eine weitere würde folgen.
Ich machte mir keine Sorgen, dass ich verlieren könnte. Ich hatte bei mehr Schachpartien zugeschaut, als Matthes in seinem Leben spielen würde. Manchmal hatte ich es gewagt, gegen die Großen ihrer Zeit in Menschengestalt zu spielen. Greco, Ruy López und zuletzt Philidor. Dabei verlor ich regelmäßig, aber lernte daraus. Einmal hatte ich mir mit einem recht guten portugiesischen Meister einen Wettkampf über 64 Partien geliefert. Knapp gewonnen. Aber das ist eine andere Geschichte. Was ich bei Matthes bisher gesehen hatte, machte mir nicht Bange.
Ich beobachtete ihn die ganze Woche nicht. Wollte keinen Vorteil aus meinen Möglichkeiten ziehen, falls er sich vorbereitete. Am Sonntag wartete ich ungeduldig. Zuerst verließ Pastor Claudius das Haus, um den Gottesdienst vorzubereiten. Dann folgten die Mutter und ihre verbliebenen Söhne. Ohne Matthes.
Ich nahm den Hut ab. Wollte keinen Zweifel daran lassen, dass es auf Leben und Tod ging. Matthes saß bereits am Brett.
„Sieh an, Freund Hain, hast du Lust auf eine Partie Schach?“
Er klang gelassen, fast fröhlich. Ich hatte etwas mehr Ernst erwartet.
„Gut, du bist vorbereitet“, sagte ich grimmig.
Ich setzte mich. Matthes sah mich fragend an. Dann zuckte er mit den Schultern, nahm einen weißen und einen schwarzen Bauern vom Brett. Hinter seinem Rücken wechselte er die beiden Figuren hin und her. Dann streckte er mir die geschlossenen Hände entgegen. Ich tippte auf seine linke Faust. Matthes öffnete sie:
„Schwarz. Das war zu erwarten, Freund Hain, oder?“
„Vielleicht“, erwiderte ich abweisend.
Er stellte die Bauern zurück aufs Brett. Die weißen Figuren standen bereits auf seiner Seite.
„Ich merke, du bist heute nicht sehr gesprächig. Lass uns beginnen. Du bist bereit?“
Ich nickte.
„Na dann: auf in die Schlacht.“
Matthes ließ seinen Königsbauern zwei Felder vorschnellen. Das hatte ich erwartet. Er machte das immer. Ich tat es ihm gleich. Im zweiten Zug setze er seinen Damenspringer nach innen vor die Bauernreihe. Ich brachte als Antwort meinen Königsläufer ins Spiel. Zog ihn drei Felder diagonal auf das italienische Feld.
Der nächste Zug überraschte mich. Der Springer zog an den Rand und attackierte meinen Läufer. Ich schaute Matthes fragend an.
„Ja, ja. Damit hast du nicht gerechnet. Das ist die Holsteiner Variante. Gibst du auf?“
Ich schüttelte bloß den Kopf. Was war mit ihm los? Nahm er dieses Duell nicht ernst?
Meinen Läufer wollte ich auf jeden Fall behalten, zog ihn bis vor den König zurück. Matthes ließ darauf seinen Springer wieder zurückgehen. Ein klarer Zeitverlust. Wollte er verlieren? Nun wurde ich neugierig. Was würde passieren, wenn ich meinerseits den Läufer wieder auf das italienische Feld stellte? Gedacht, getan.
Und Matthes ging wieder mit dem Springer zum Rand. Da wurde mir plötzlich klar: Für den Remisfall hatten wir keine Vereinbarung getroffen. Aber nein, Remis würde es heute nicht geben. Nur was sollte ich mit dem Läufer tun?
Auf einmal zwickte mich eine Idee. War das die rechte Art den Springerzug zu bestrafen? Einfach in die Bauernreihe einschlagen? Mit Schach. Der König müsste den Läufer nehmen. Die Dame erschiene groß und mächtig am Spielfeldrand. Schach. Der König ginge zur Seite. Der Königsbauer fiele, und dann wäre es aus mit dem vorwitzigen Springer!
Triumphierend schlug ich mit dem Läufer ein. Matthes zuckte kurz zurück, nahm ihn mit dem König. Meine Dame zog auf der Diagonalen durch bis zum Rand.
„Schach“, sagte ich.
„Nicht zu übersehen, Freund Hain. Er hat wahrlich Pfefferwasser heut getrunken. Dann schauen wir mal.“
Und dann zog er seinen König – nach vorne! Hinter den Königsbauern! Verflucht! Daran hatte ich nicht gedacht. Der Bauer war nun verteidigt. Ich wollte mir nichts anmerken lassen, gab schnell noch mal Schach mit der Dame, die ich neben den weißen Königsbauern stellte. Der König wich ein Feld zur Seite. Verflucht!
Gerade noch hatten meine Figuren wohlgeordnet in der Ausgangsstellung gestanden, darauf wartend ihre Kräfte zu entfalten. Und nun? Chaos und Verderben. Meinen schönen Läufer für einen dummen Bauern hergegeben und nichts gewonnen dabei. Was für eine blöde Idee, eine Schachpartie um Leben und Tod auszutragen.
„Probleme?“, fragte Matthes.
„Nein, alles bestens. Ich plane nur gerne langfristig voraus.“
„Gut, plane er. Wir haben Zeit.“
Und dieser verdammte fröhliche Gleichmut. Na, das würde ihm noch vergehen. Immerhin stand der König exponiert. Nun hieß es, möglichst schnell Figuren aufs offene Brett zu schicken. Sollte ich den Damenbauern ins Zentrum stellen, um den anderen Läufer ins Spiel zu bringen? Ja! Der Königsbauer durfte nicht schlagen. Das würde die Bahn zum Springer öffnen.
Ich zog den Damenbauern zwei Felder vor. Die Antwort kam prompt. Der König gab den Königsbauern auf und wich zur Seite. Also verspeiste ich mit der Dame den Bauern. Matthes zog den König noch mal zur Seite. Damit war dieser döselige Randspringer verteidigt.
Mir fiel Graf Ruska wieder ein mit seiner merkwürdigen Theorie. Er hätte Spaß gehabt an dieser Partie, in der ein König die ganze Laufarbeit übernahm. Ich fühlte mich schon etwas wohler. Zwei Bauern hatten für den Läufer abtreten müssen. Die Dame stand mächtig im Zentrum des Brettes. Meine Figuren warteten darauf, die Verfolgung des Königs aufzunehmen. Als erstes zog ich den Damenspringer an den Rand. Es drohte Matt.
„Oho, der Herr Hain mag es einfach und brutal, aber einfach mag ich es auch.“
Er zog den Randbauern ein Feld vor. Unangenehm. Der König drohte durch das Hintertürchen in Sicherheit zu verschwinden. Wie weiter? Viele Möglichkeiten, aber nichts Klares. Ich spürte, die Partie war am Wendepunkt. Jetzt musste etwas Entscheidendes passieren. Sonst drohte Krampf und Geschiebe. Aber was?
Ich ging noch mal die Möglichkeiten durch. Läufer hinausbringen, Königsspringer heranführen, den Damenbauern noch ein Feld vorziehen. Nichts führte irgendwo hin.
„Wieder langfristige Pläne?“
„Sehr langfristig.“
„Gut, gut, stopf ich mir ein Pfeifchen. Wenn’s gestattet ist?“
„Bitte.“
„Danke.“
Dieses Grinsen. Diese Leichtigkeit. Als ob ihn das alles nichts anginge. Während ich brütete, um ihn zu retten! Ich, der Tod, spielte, um ein Leben zu retten! Verdammt! Verdammt! Verdammt!
Doch plötzlich schlug bei mir ein Blitz ein. Ich guckte ganz genau hin. War das möglich? Wenn ich die Dame für den Springer opferte und dann Schach mit meinem Randspringer, Schach mit dem Bauern, der andere Springer käme hinaus. Großartig. Keine Macht der Welt würde den weißen König aus dem Mattnetz befreien können.
Ich schlug den Springer mit der Dame. Matthes ließ verdattert die Pfeife sinken.
„Was … ?“
Er legte die Pfeife auf den Tisch.
„Was machst du da, Freund Hain?“
„Nichts Besonderes, Matthes. Nur langfristige Planung.“
Vergnügt sah ich, wie Matthes vergeblich versuchte herauszubekommen, was ihm drohte. Schließlich zuckte er die Achseln, schlug meine Dame mit dem König.
Mein Springer warf sein Schach aus. Der König ging zur Seite und voller Genugtuung schepperte ich mit dem Randbauern das tödliche Schach hinterher. Matthes fraß das Pferdchen, wollte wieder zur Pfeife greifen. Schnell setzte ich den verbliebenen Springer vor den König. Matthes stutzte, ließ Pfeife Pfeife sein und dachte nach.
Stolz schaute ich neben das Brett. Der schwarze Läufer: geopfert! Der schwarze Springer: geopfert! Die schwarze Dame: geopfert! Was für eine Partie!
Matthes gab mit dem Läufer Schach. Kein Problem. Ich wich mit dem König zur Seite auf das Feld der Dame. Matthes dachte wieder nach. Der Läuferzug war nutzlos, hatte dem König das letzte Fluchtfeld geraubt. Nun drohte bereits einzügig Matt. Ich konnte es mir nicht verkneifen, nun zurück zu sticheln.
„Langfristige Pläne?“
Matthes schaute hoch zu mir und lächelte. Er lächelte!
„Freund Hain, du hast vergessen, dass ich hier spiele, um jede Langfristigkeit zu beenden. Lass mich also kurzfristig nachdenken.“
„Bitte.“
„Danke.“
Er dachte nach. Plötzlich ruckte sein Oberkörper ein Stück zurück. Dann lehnte er sich wieder vor. Voller Konzentration. Was sollte das? Ich schaute aufs Brett. Da war nichts mehr zu machen. Zöge er den Läufer zurück, folgte Bauernschach und dann Läuferschach gleich Matt.
Matthes schaute kurz zu mir hoch. Dann langte er über das Brett. Seine Hand schwebte über dem Läufer. Er griff zu und schob die Figur ein Feld in Richtung meines Königs.
„Matthes!“
Geschockt sah ich aufs Brett. Der Läufer bot sich zum Schlagen an. Aber dann waren alle Mattpläne zunichte. Und das Schach mit dem Bauern war jetzt nutzlos. Der König würde sich einfach hinter dem Läufer verstecken. Ich schaute auf die Figuren, die neben dem Brett standen. Es war völlig aussichtslos mit so viel Rückstand zu gewinnen.
Doch es musste einen Weg geben. Es musste! Ich feuerte mich selbst an. Denk nach! Konzentrier dich! Ich betrachtete noch mal das Schach mit dem Bauern. Wenn ich anschließend mit dem Springer den störenden Läufer schlüge, drohte wieder ein Mattnetz. Was wäre jedoch, wenn der König den Springer sofort einkassierte? Ich könnte mit dem Läufer Schach geben, aber welches? Und dann sah ich es: Der König konnte sich durchfressen bis in mein eigenes Lager, aber dann gäbe es kein Entkommen mehr vor dem Matt. Phantastisch!
Ich gab das Schach mit dem Bauern. Der König ging zur Seite. Ich schlug den Läufer mit dem Springer. Ohne nachzudenken schlug Matthes mit dem König zurück. Ich zog den Läufer mit Schach einen schrägen Schritt nach rechts in die Fianchettoposition. Matthes dachte nach. Ich sortierte noch mal meine Gedanken.
Schlüge er den Läufer mit dem König, ginge ich einfach mit meinem König einen Schritt vor und machte die Bahn für den Königsturm frei. Was für ein Matt! Mit den letzten beiden Figuren. Nein! Was wäre, wenn der König nicht schlüge? Noch ein Schach mit dem Läufer von rechts. Der König würde an den Rand gequetscht und … Und? Ja! Der Läufer ginge zwei Felder vor. Alle Fluchtwege wären versperrt. Das Matt durch den Bauern unausweichlich.
Matthes zog den König zurück. Ich gab das Läuferschach am Brettrand. Und er zog den König einfach wieder schräg nach vorn. Denkste Matt. Das war’s dann wohl. Ewiges Schach. Remis. Ich zog den Läufer wieder herunter. Er ging mit dem König hoch. Ich gab Läuferschach. Er nahm den König, zögerte und stellte ihn an den Rand.
Ich schaute Matthes überrascht an. Er lächelte.
„Du hast gewonnen, Freund Hain.“
„Aber du musst doch nicht an den Rand. Es ist Remis.“
„Nein, du hattest schon gewonnen, als du zur Partie erschienen bist. Doch du kamst mit dem Hut in der Hand und so ernst, dass ich nichts gesagt habe.“
Ich setzte den Hut auf.
„Aber es hätte doch auch anders ausgehen können.“
„Ach, weißt du, Freund Hain, dein Gebieter ist auch mein Gebieter. Was soll ich mir Sorgen machen über die Wege des Herrn? Immerhin hab ich nun gesehen zu welchen Opfern du bereit bist.“
Er deutete auf die gelichteten schwarzen Reihen.
„Ich verspreche, dass ich ab jetzt vernünftig sein werde.“
„Du und die Vernunft werden ein Paar?“
„Gut, sage ich es anders. Ich werde das Instrument wechseln und nicht mehr Trübsal blasen, sondern Funken schlagen. Hast du eine Idee, was ich zuerst auf meinem Instrument spielen soll?“
Ich schaute aufs Brett.
„Eine Etüde über Schwarz und Weiß?“
Matthes lachte.
„Ja. Das wäre wohl angemessen. Die Hand drauf, Freund Hain, die Hand drauf.“
Ich ergriff seine ausgestreckte Hand, und es war gut.