11 - An - als ihm die - starb
An – als ihm die – starb
Der Säemann säet den Samen,
Die Erd empfängt ihn, und über ein kleines
Keimet die Blume herauf –
Du liebtest sie. Was auch dies Leben
Sonst für Gewinn hat, war klein Dir geachtet,
Und sie entschlummerte Dir!
Was weinest Du neben dem Grabe
Und hebst die Hände zur Wolke des Todes
Und der Verwesung empor?
Wie Gras auf dem Felde sind Menschen
Dahin, wie Blätter! Nur wenige Tage
Gehn wir verkleidet einher!
Der Adler besuchet die Erde,
Doch säumt nicht, schüttelt vom Flügel den Staub, und
Kehret zur Sonne zurück!
Matthes setzte das Gedicht Jahre später in den Wandsbecker Boten. Wie hier mit ausgelassenen Namen im Titel und ohne Verfasserangabe. Beim Boten waren fast alle Texte anonym. Und jetzt die Pointe: So ein Schlaumeier requirierte dieses Gedicht für einen Lyrikband. Und was hat er oben drüber geschrieben? Genau: Friedrich Gottlieb Klopstock.
Was die Leute immer unterschätzt haben bei Matthes: Er wollte die Dinge so schreiben, wie er sie schrieb. Er hätte auch alles in Klopstock-Manier schreiben können. Aber er entschied sich für einen Ton, der oft naiv klang. Das machte er so gut, dass viele darauf hereinfielen. Doch ein Dichter, der naiv schreibt, muss nicht naiv sein. Man sollte niemals Schauspieler und Rolle verwechseln.
Ich lag aber auch daneben. Ich dachte: Lass ihn wieder ans Schreiben kommen, dann geht es weiter. Nichts ging. Matthes legte sich ins Bett. Erst schien er krank. Dann hieß es, der Tod seiner Schwester, ach ja. Und dann wusste keiner mehr weiter.
Ich wartete. Zwei Wochen, drei Wochen. Als die Familie einen Sonntag zum Gottesdienst war, bin ich hin.
„Da liegst du also wieder.“
Matthes beschattete die Augen mit der Hand. Ich stand vor dem offenen Fenster.
„Ah, Freund Hain ist gekommen mit dem Hut auf dem Haupt. Keine neuen Todesfälle? Nicht mal mein eigener?“
„Wünschst du dir das?“
„Nein, das wäre gegen Gottes Gebote. Aber ich wünsche mir auch nicht das Leben.“
„Das sehe ich. Aber warum?“
„Wenn ich es dir erklärte, du würdest es nicht verstehen.“
„Dann was Anderes: Was ist aus dem Gedicht für Pastor Müller geworden?“
„Ha! Wer hätte das gedacht, Freund Hain ist ein Mann der Poesie. Ja, was ist aus dem Gedicht für Pastor Müller geworden? Ich habe es überreicht, der Pastor las es und hat geweint wie ein Kind. So viel ich hörte, hat er es drucken und rahmen lassen und es hängt jetzt an der Wand seines Schreibzimmers. Ist das nicht wunderbar?“
„Anscheinend nicht.“
„Ja, Freund Hain, nichts ist wunderbar. Du hattest recht, ihm war es egal, wem ich nachgesprungen bin, denn es hat ihn im Innersten getroffen. Aber mir! Mir ist es nicht egal. Ich weiß, ich kann etwas, ich kann etwas Großes leisten, doch niemanden interessiert es. Niemand merkt, was ich anders mache. Stattdessen werde ich verhöhnt und verrissen. Niemand glaubt an mich. Warum lebe ich und nicht Jos? Was ist das für ein grausamer Scherz, Freund Hain? Sag mir das.“
Matthes hatte sich im Bett aufgerichtet, funkelte mich an. Es war wieder Leben in ihm. Aber ein falsches.
„Wieso sagst du, niemand glaubt an dich? Was ist mit deinem Schwager, deinen Eltern, mit mir?“
„Sicher Hain, das ist schön und gut, aber auch zu erwarten. Wenn schon nicht Familie und Freunde an einen glauben … Aber was zählt das dort draußen? Dort draußen zählt nur, was Wissende zu deinen Werken sagen. Wenn sie sagen, sie sind nichts wert, dann sind sie nichts wert.“
„So ist das?“
„Ja, Hain, so ist das.“
„Hm.“
Jetzt musste etwas kommen. Improvisieren war gefragt.
„Könnte es nicht sein, dass sie die Konkurrenz fürchten? Dass jemand, der etwas anders schreibt, gefährlich ist? Könnte es nicht sein, dass sie sich davor ängstigen, auf einmal könnte jeder kommen und Gedichte schreiben?“
Sein Blick wurde unsicher: Etwas war zu ihm durchgedrungen. Doch dann ließ er sich zurückfallen.
„Lass gut sein, Freund Hain, ich kann nicht mehr. Ich wünschte so sehr, dass Jos noch lebte. Jede Nacht sehe ich im Traum seine Hand, die mich greifen will.“
„Das wundert mich nicht. Er kann nur durch dich leben und du weigerst dich.“
„Ich will nichts mehr hören, Hain. Lass mich in Ruhe.“
Er wandte sich von mir ab, zog die Decke über die Schulter. In mir brodelte es. Mein Blick fiel auf das Schachspiel, das ihm mit seinem Vater anregende Abende beschert hatte. Die Figuren standen in der Ausgangsstellung. Was nützt ein Schachspiel, wenn man keinen Zug macht? Es brodelte mehr und mehr. Sicher, mit jedem Zug muss man etwas aufgeben, um etwas Anderes zu gewinnen. Und wer nicht spielt, kann nicht verlieren. Aber er lebt auch nicht. Und es brodelte, wie es noch nie in mir gebrodelt hatte. Ich warf den Hut auf den Boden und schrie meinen Zorn hinaus.
„Hör mir gut zu! Matthias! Claudius!“
Erschrocken drehte sich Matthes zu mir um.
„Mir reicht es! Du willst nicht mehr leben? Gut! Du sollst deine Chance haben. Sieh das Schachspiel auf dem Tisch. Wir werden spielen. Heute in einer Woche. Gewinnst du, wird dein Wunsch erfüllt. Verlierst du, hast du zu leben und zu arbeiten, an dir und deiner Kunst, wie du noch nie zuvor daran gearbeitet hast.“
„Ich dachte, du hast keinen Einfluss auf Leben und Tod.“
„Nun, wenn ich als Mensch erscheinen kann, dann kann ich auch als Mensch handeln.“
„Du würdest mich töten?“
„Warum nicht? Ich beende jede Sekunde zig Leben.“
„Und wenn ich nicht spielen will?“
„Was glaubst du, mit wem du es hier zu tun hast? Was glaubst du, in wessen Auftrag ich handle? Glaubst du wirklich, du könntest dich dieser Macht widersetzen? Du wirst spielen! Glaube mir! Du wirst ganz bestimmt spielen!“
Und ich hob den Hut auf und verschwand.