10 - Matthes spazierte am Herrenteich ...
Matthes spazierte am Herrenteich entlang. Ausnahmsweise ohne seinen kleinen Bruder. Weit und breit war niemand zu sehen. Er zuckte kurz zusammen, als ich plötzlich vor ihm stand.
„Freund Hain! Lange nicht mehr … “
Er starrte den Hut an, bekam nur ein Flüstern heraus:
„Warum hast du den Hut in der Hand, Freund Hain?“
„Matthes, ich war gerade bei deiner Schwester.“
„Thea? Sie ist …“
Ich nickte.
„Wie kann das sein? Wir haben nichts gehört, dass sie krank wäre oder dergleichen. Das ist doch nicht …“
Mein Blick ließ ihn verstummen.
„Thea! Mein Gott! … Wie ist sie gestorben?“
„Als ich zu ihr kam, war sie schon im Fieberschlaf. Sie hat sich aus dem Leben geträumt. Wenn dir das ein Trost sein kann.“
„Und die Kinder? Was ist mit den Kindern?“
„Alle wohlauf. Es scheint nichts Ansteckendes gewesen zu sein. Vier Kinder in vier Jahren. Sie war schon etwas schwächlich.“
„Warum hast du nichts gesagt?“
„Was hätte das geändert? Die Kraft war auch nicht besonders ausgeprägt. Es muss sehr rasch gegangen sein.“
Matthes setzte sich auf einen Baumstumpf. Schaute blicklos um sich.
„Wann …?“
„Gerade eben.“
Das brachte den Durchbruch. Tränen flossen zunächst unbemerkt. Dann verkrampfte sich seine Mimik, es schüttelte ihn, er schlug beide Hände vors Gesicht und weinte schluchzend.
Ich stand nur da, fühlte mich hilflos. Diesmal wagte ich nicht, mich zu nähern. Sonst war ich schon immer weg, wenn die Trauer ausbrach. Mir ging eines auf: Sollte diese Freundschaft anhalten, würde ich noch häufiger Derartiges erleben. Das war der Preis. Ehrlich gesagt: In jenem Moment war ich nicht scharf darauf, diesen Preis zu zahlen.
Es schien eine halbe Ewigkeit zu dauern. Dann beruhigte er sich zunehmend, wischte endlich die Tränen ab und stand auf.
„Ich werde es den Eltern sagen müssen.“
„Nein, Matthes, das geht nicht.“
„Warum soll das nicht gehen?“
„Du kannst es noch gar nicht wissen. Wenn sie fragen, wer es dir gesagt hat, was dann?“
„Es könnte doch jemand nach Reinfeld hereingekommen sein, der es wusste.“
„Matthes, selbst ihr Mann weiß es noch nicht.“
„Er war nicht bei ihr?“
„Nein, ich sagte doch, es muss sehr schnell gegangen sein. Pastor Müller ist zu einer anderen Kranken, die bald sterben wird.“
„Wie soll ich dann meinen Eltern unter die Augen treten?“
„Nun warte halt. Mach einen Rundgang um den Teich. Komponier ein Gedicht für sie.“
Das war mir so herausgerutscht. Weil ich es so verdammt gern gesehen hätte, dass er wieder etwas schrieb.
„Meine kleine Schwester ist gerade gestorben im Alter von ganzen 22 Jahren, vier kleine Kinder haben keine Mutter mehr und du denkst ans Gedichteschreiben? Was bist du nur für ein Mensch!“
„Ich bin kein Mensch, Matthes.“
Er guckte verblüfft.
„Das mag sein. Trotzdem sollten Sie einsehen können, dass jetzt nicht der rechte Zeitpunkt ist, sich mit Gedichten zu beschäftigen.“
„Warum nicht? Hätte sie es nicht verdient? Könnte es nicht ein Trost sein? Für den Mann, der seine Frau so früh verlor? Für ihre Kinder, die sich später kaum an sie erinnern werden?“
„Das ist alles zugegeben und schön und gut, aber hat er nicht vergessen, dass ich keine Gedichte schreiben kann, nur ein Nachahmer-Äffchen bin?“
„Ja und? Du schreibst dieses Gedicht nicht für die Herren Kritikusse. Nicht für die hehre Literaturwelt. Sondern für einen Menschen, der seine Liebste verlor. Was ist es ihm, wenn du nur nachahmst, solange du sein Herz erreichst?“
Mit einem Male wich der Zorn aus seinem Gesicht. Er schaute mich fast zärtlich an.
„Mein lieber Freund Hain, du bist schon ein sehr eigener Mann. Also sei es. Hat er Vorschläge zu machen?“
„Was gefällt dem Pastor Müller?“
„Klopstock würde ich sagen. Zu Weihnachten bekam er von mir eine Ausgabe mit den ersten Gesängen des Messias und Ostern fragte er nach weiteren Stücken.“
„Klopstock? Der Dichter, der sich nicht reimt?“
Matthes schmunzelte.
„So ist es. Der Herr wünscht also etwas Ungereimtes. Sein Wunsch sei mir Befehl. Noch weitere Wünsche?“
„Nein, das ist alles.“
„Dann empfehle ich mich. Ich muss ‚komponieren’. Guten Tag.“
Und er machte kehrt. Ließ mich einfach stehen. Ein Dichter eben.