Unterm Lyrikmond
Gedichte lesen und hören, schreiben und interpretieren
Eines muss man wohl sagen: Der Alltag ist nicht gerade die Stärke der Dichter. Gedichte zu einzelnen Wochentagen sind selten, einzige Ausnahme ist der Sonntag, und was an Wochengedichten lesenswert erscheint, ist eher kurios. Sehen Sie selbst:
Eine sehr abwechslungsreiche Woche scheint dieser Herr Wagner genossen zu haben.
Dieses Gedicht führt die Arbeitsmoral unserer Groß- und Urgroßväter vor nach dem Motto: Früher war alles besser.
Eine etwas primitive Art der Programmierung nutzt dieses Gedicht für seine Zwecke. Die Profis hätten eine ordentliche Schleife für die Werktage erstellt, aber dann wäre es kein ordentliches Gedicht mehr geworden.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
Das Wochenprogramm
1 arbeiten essen schlafen
2 arbeiten essen schlafen
3 arbeiten essen schlafen
4 arbeiten essen schlafen
5 arbeiten essen schlafen
6 kaufen kaufen kaufen
7 leer
8 zurück zu 1
Als Kind
habe ich die Geschichte eines Mannes gehört,
der über die Vögel sagte:
Sie säen nicht, sie ernten nicht,
aber der himmlische Vater ernährt sie doch.
Als Kind.
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Einzelne Wochentage, bis auf den Sonntag, werden selten in Gedichten thematisiert. Hier hat jemand sich die Samstags-Aktivitäten auf dem Dorf zur Brust genommen.
Thomas Haker · geb. 1970
An den Samstagen
An den Samstagen öffnen sich die Türen
öffnen sich die Scheunentore
werden Augen wach
und die alten Traktoren leben wieder
knattern in Richtung der Anhöhen
knattern hinein in die Stille der Wälder.
Und aller Ärger, alle Wut, alle Traurigkeiten
sammeln sich zu einem Brummen
zu einem Kreischen
werden zu reißenden Zähnen und zu Kraft
die sich in mächtige Bäume frisst.
Ein Chor von Motorsägen über dem Dorf
die Wunden ringsum markiert mit Rauch
der aufrecht zum Himmel steigt.
Ab und an kurz Stille
und bald darauf ein entferntes Ächzen
und ein Schlag vom Aufprall einer Krone.
Am Abend dann verlassene Lichtungen
in die nach langer Zeit der Mond wieder scheint.
Im Haus das Knistern des Feuers
hätten wir vielleicht gar nicht gehört.
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Kommentar:
Mehr Gedichte von Thomas Haker bietet seine eigene Website.
Der Kirchgang gehörte lange Zeit zur Sonntagstradition, denn es war der Tag des Herrn. Dass einem wie Ringelnatz in der Kirche ganz eigenartige Gedanken kommen, ist wohl nicht so überraschend.
Der Sonntag galt einmal als Tag des Kirchgangs, aber selbst tief im 19. Jahrhundert gab es Menschen, die den Wald bevorzugten. In diesem Sonntagsgedicht legt einer davon Zeugnis ab.
Etwas müde scheint hier der Dichter, es hat nicht mal mehr zum Reimen gelangt, aber der Text funktioniert trotzdem als stimmungsvolles Sonntagsgedicht.
Die expressionistische Sichtweise des Sonntags führt in diesem Gedicht Alfred Lichtenstein vor.
Wie die Steigerung des vorigen wirkt dieses Sonntagsgedicht. Eine interessante Nuance ist dabei die verlängerte dritte Zeile einer jeden Strophe.
Und hier folgt ein gänzlich entspanntes Sonntagsgedicht in Sonettform. So wünscht man sich den Sonntag.
In aller Stille vergeht in diesem Gedicht der Sonntag, wobei die Strophen mit Fortschreiten des Abends erst nach und nach zum Reim finden.
Karl Röttger · 1877-1942
Leiser Schritt der Einsamkeit ...
Leiser Schritt der Einsamkeit
Durch die Sonntagabendstille.
Gelbe Abendsonne scheint
In die Fenster, auf die Straßen,
Liegt an alten, grauen Häusern,
Glühe, gelbe Schleier hängen
In den alten, hohen Bäumen
Kirchhofsulmen, Marktplatzlinden.
Wie ein Ton hängt in den Lüften,
Und nicht tönt, wie Kinderstimmen
Schweigen auf dem Kirchhofsplatz: –
Ist das leis verblasste Frieren
Eines Lebens, das verlebt,
Eines Tages, der versunken,
Einer Wehmut, einer Sage
Einer Dämmrung, deren Funken,
Deren letztes Glimmen lischt
In der blassen Frühherbstnacht,
Eine dunkle Hand verwischt
Nun das Bild. Und kühl und sacht
Überm fremden Dunkel spricht
Nur der Wind noch, spricht und weht
Um die Häuschen, da ein Licht
Hier und dort nun sanft aufgeht ...
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Unverkennbar symbolisch wirkt dieser Abschied vom Sonntag. Den Montag dieses Gedichts möchte man nicht geschenkt haben.
Franz Werfel · 1890-1945
Der Sonntagabend
Noch habe ich diesen Stern nicht verlassen.
Noch umfängt mich süß untätiges Leid.
Doch eh mich Bestimmung der Seele
Flutet aufs morgige Gestirn,
Fließe ich noch durch die lange Weltnacht,
Flattre ich noch mit den Abgeschiedenen
Durch unerwachte Forste und Wiesen.
Noch einmal sinken durch mich
Des Verlorenen weinende Bilder.
Eh die ersten Stürme schmettern,
Eh die fremden Strahlen fallen,
Eh im stählernen Arm das furchtbare Morgen mich hält.
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Kommentar:
Die vorliegende Version weicht von anderen Veröffentlichungen im Netz ab. Sie ist der letzten Anthologie entnommen, die der Dichter selbst zusammengestellt hat: Gedichte aus den Jahren 1908-1945. Dabei hat Franz Werfel noch kleinere Korrekturen an seinen Gedichten vorgenommen.