Unterm Lyrikmond
Gedichte lesen und hören, schreiben und interpretieren
Ein Dichter ist wie ein Arzt immer im Dienst. Auch unterwegs oder gerade unterwegs sammelt er Eindrücke, um sie in Gedichten zu verarbeiten. Dabei spielt die Geschwindigkeit keine Rolle. Ob zu Fuß, mit der Bahn oder dem Flieger, die Gedanken sind bekanntlich frei und laufen bei Dichtern in den merkwürdigsten Bahnen. Einige Zielankünfte wurden hier gesammelt.
Da oben im Flugzeug kann man schon mal auf andere Gedanken kommen. Die richten sich nicht nur nach unten, sondern ganz nach oben.
Hier werden die Schönheiten des ziellosen Herumfahrens mit dem Auto geschildert. Also mehr Ausflug als Reise, aber trotzdem mit Zielankunft.
In diesem Gedicht geht es ganz unzweifelhaft um Autos, wobei das Beste an ihnen zu sein scheint, dass man sie ganz schnell vergessen kann.
Georgi Kratochwil · geb. 1979
DA!
Autos, Autos, Autos, Autos, Autos,
Autos, Autos, Autos, Autos, Autos,
Autos, Autos, Autos, Autos, Autos,
Autos, Autos, Autos, Autos, Autos,
Autos, Autos, Autos, Autos, DA!
Ein Mensch!
Zwei Beine, die gehen.
Zwei Augen, die sehen.
Und ich
seh’ keine Autos mehr.
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Über das tägliche Drama einer „Blick-Begegnung“ schreibt Franz Werfel in diesem Gedicht. Dramatischer wäre nur, wenn’s keine mehr gäbe.
Das Zugunglück in diesem Gedicht ist halb so schlimm. Es geht um das Unglück, in der falschen Richtung unterwegs zu sein.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Zugunglück
Jedes Mal,
wenn ich auf dem Bahnsteig stehe,
und an Gleis 5
wird der Zug nach Hamburg durchgesagt,
betrachte ich neidisch
die Leute an Gleis 5
und sage mir:
„In Hamburg war ich schon lange nicht mehr.
Da wollte ich auch mal wieder hin.”
Und der Zug nach Hamburg fährt ein,
verdeckt mir die Sicht,
und er fährt ab,
und die Leute sind weg,
und ich stehe da.
Jedes Mal.
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Eine typische Beobachtung der Leute in der Bahn wird in diesem Gedicht gezeigt. Bei solchen Themen gilt: Wer’s zuerst aufschreibt, hat gewonnen.
Wie man sich unterwegs nahkommt und doch entfernt bleibt, schildert das folgende Ringelnatzgedicht.
Über einen Reisenden wider Willen berichtet dieses Gedicht aus Nürnberg, obwohl diese Geschichte auch in jeder anderen Stadt mit Straßenbahn hätte passieren können. Da steckt bestimmt was dahinter!
Wolfgang Wurm · geb. 1972
Leider
Fährt ein Falter
Zweimal, dreimal
Mit der Straßenbahn
Durch ganz Nürnberg
Hin und zurück
Hin und zurück
Fliegt wieder
Und wieder
Mit ganzer Kraft
Gegen dasselbe Fenster
Hin und zurück
Hin und zurück
Hin und zurück
War das schon
Die ganze Geschichte
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Kommentar:
Mher Gedichte von Wolfgang Wurm bietet seine eigene Website www.spazierendenken.de.
Wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, kommt es zu vielen Blickbegegnungen. Ein Lächeln kann da Berge versetzen. Der Berg in diesem Gedicht schrumpft aber allerschnellstens zum Maulwurfshügel.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Die Hauptsache
Die Stufen klappen auf.
Ich steige aus der Straßenbahn aus.
Die junge Frau an der Haltestelle lächelt
mich an? Warum, ach nein.
Sie lächelt den Typen hinter mir
an. Hm.
Na gut.
Hauptsache
sie lächelt.
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Wer nicht auf sein Handy starrt, sieht und hört in der Straßenbahn interessante Dinge, z.B. einen Beitrag zur Völkerverständigung.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Wie in den alten Zeiten
In der Straßenbahn unterhalten sich
zwei Mütter
über ihre Babys
in gebrochenem Deutsch.
Und wie in den alten Zeiten
ersetzen Blicke und Lächeln
die Wörter,
die fehlen.
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Auch Kleinighkeiten sind unterwegs wichtig, wie z.B. nicht verteilte Zeitungsstapel an einer Haltestelle:
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Kleine Tragödie
Die Zeitungsstapel liegen immer noch
im Wartehäuschen an der Haltestelle.
Deshalb also
hat sie am Donnerstag dort gesessen
und geweint.
Er ist tatsächlich
nicht mehr gekommen.
Den Job dürfte er auch los sein.
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Wie man die tägliche Weltreise zum Arbeitsplatz im 21. Jahrhundert überlebt, demonstriert das folgende Gedicht.
Patrick Schlegel · geb. 1993
Busfahrt
Grauer Himmel, dunkle Stadt
Mit der Donnermühle
Über Straßen nass und glatt
Durch die feuchte Kühle
Beide Ohren präpariert
Klare Stimmen klingen
Für den Außenlärm blockiert
Solln ihn übersingen
In den Händen liegt mein Licht
Mit den schwarzen Kanten
Die vor meinen Augen dicht
Eine Welt umranden
Ein Gerät um zu entfliehn
In das Netz der Netze
Sich die Zeichenketten ziehn
Durch so viele Sätze
Sich die Wirklichkeit verliert
Schöne Farben stechen
Wenn hier drin die Zeit gefriert
Kann ich sie durchbrechen
Stunden schmelzen fort wie Eis
In des Lichtes Wärme
Das als Brennstoff leitet leis
Strom durch Kabeldärme
Letztlich ist erreicht das Ziel
Geh mit der Kolonne
Stell auf Pause kurz mein Spiel
Blass die echte Sonne
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Kommentar:
Mehr Gedichte von Patrick Schlegel finden sich in seinem Blog.
Man kann sagen, heute wird viel mehr unterwegs gelesen – auf dem Handy. Und trotzdem: Wehmütig denkt man an die längst vergangene Zeit zurück, als Lesen noch seitenweise geschah.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Erinnerung
Eine Mutter
und ihre beiden Töchter
sitzen bücherlesend im Bus.
Die Mädchen blättern
gleichzeitig um
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Was man sieht, wenn man in der Stadt unterwegs ist, das ist sehr unterschiedlich: Männer gucken Frauen, Frauen gucken Schaufenster. Was davon übrig blieb, schildert dieses Gedicht.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Mädchen mit Flügel
Heute war ein warmer Sommertag,
Brust-raus-Schaulaufen in der City.
Junge, schwarzhaarige Männer verschlangen
gut portionierte Kugeln im Doppelpack,
verhängten Todesurteile,
ohne mit der Wimper zu zucken.
Merkwürdig,
all diese gutaussehenden Mädels,
ich hab sie gleich wieder vergessen.
Erinnern kann ich mich nur an eine:
Sie sah nicht besonders aus,
doch nicht wirklich hässlich.
Ihre Kleidung war zu warm
und kein bisschen modisch.
Aber sie hatte diesen Blick,
diesen Blick eines Vogels
mit gebrochenem Flügel.
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Es gibt zu viele Menschen und zu wenig Kaninchen. Das scheint die Botschaft des folgenden Gedichts zu sein, obwohl gerade Kaninchen in einem besonders fruchtbaren Ruf stehen.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Zwei Kaninchen
Eine Million
sechshundert
achtundzwanzigtausend
vierhundert
sieben und
dreißig Menschen
hasteten in der Fußgängerzone
an mir vorbei.
Auf der Rückfahrt
habe ich zwei Kaninchen gesehen.
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Wenn man denkt, man ist allein unterwegs, dann denkt man nicht weit genug zurück. Allerdings könnte auch ein bisschen Vorausdenken nicht schaden, wie der Schluss des Gedichts zeigt.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Nie wieder allein
Ich gehe allein
im Regen auf einer Landstraße.
Weit und breit
niemand zu sehen.
Doch wenn ich zurückdenke:
Da sind die Straßenarbeiter,
die der Teermaschine folgen
und den dampfenden Teer verteilen,
die Dampfwalze, die ihn plattmacht,
der Mann mit dem Bauarbeiterhelm,
der die Verantwortung trägt.
Die Arbeiter schreien den Mann auf der Walze an,
die Walze ist zu nah dran,
der Walzenmann schreit zurück,
der Mann mit dem Bauarbeiterhelm schüttelt den Kopf,
gibt Anweisungen und ich hab gedacht,
ich wäre allein
im prasselnden Regen,
allein
mit dem Van-Gogh-Kornfeld,
allein
mit dem Gedanken an den Regenschirm,
der zu Hause im Schirmständer steht.
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Kleine Wunder gibt es überall, man muss nur hingucken. Wobei in diesem Gedicht das Wunder unübersehbar ist, es sei denn man hat verlernt sich zu wundern.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Kleines Wunder an der Ringstraße
Das Haus wurde abgerissen, der Schutt beseitigt.
Das Gelände ist eingezäunt.
Das Unkraut wuchert.
Und mittendrin
blüht eine Sonnenblume.
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