Unterm Lyrikmond
Gedichte lesen und hören, schreiben und interpretieren
Das Leben ist zu kurz, um lange Gedichte zu schreiben, sagte mal niemand nicht, und da auch der Herbst ein bisschen an die Kürze des Lebens erinnert, ist es nur gerecht, ihn in kurzen Gedichten zu würdigen. Dabei haben die Kleinen es durchaus in sich und manch ein Kurzgedicht auf dieser Seite ist längst ein Herbstklassiker.
Herbstzeit ist auch Erntezeit, allerdings hält hier die Natur selbst die Lese. Was das wohl bedeuten mag?
Wenn sich die Natur im Herbst mit allerlei Farben schmückt, dann sollte man als Mensch nicht hintanstehen – so die Botschaft dieses kurzen Herbstgedichts.
Emily Dickinson · 1830-1886
Die Morgen sind sanfter als zuvor ...
Die Morgen sind sanfter als zuvor –
Die Nüsse werden braun –
Der Beeren Wange dellt sich –
Die Rose ist schon abgehauen.
Der Ahorn trägt ’nen bunten Schal –
Das Feld geht scharlachrot –
Ich sollt’ nicht altmodisch sein,
Die bunte Kette langt zur Not.
(Übertragen aus dem Englischen von Hans-Peter Kraus)
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Zusammenfassend könnte man aus diesen Gedicht folgern, dass eine Krähe schon früher aufstehen muss, um Neuigkeiten zum Herbst mitzuteilen.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Zu spät
Die Krähe krakt
oben auf der Hausantenne.
Krähe, du bist zu spät.
Regen und Wind
haben längst herumerzählt,
dass der Herbst begonnen hat.
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Es beginnt ganz harmlos mit einem grünen Blatt, doch dann werden die großen Themen Tod und Nacht aufgetischt.
Richard von Schaukal · 1874-1942
Wende
Heut liegt der Garten schon von gelben Blättern voll.
Da sinkt auf meinen Weg ein fast noch grünes nieder:
Das ist der Tod: ich seh ihn wieder
am Werk, das lautlos sich vollenden soll.
Die Berge hat der Nebel aus der Welt gebracht.
Noch gestern standen sie hoch vorm hellen
ganz blauen Himmel. Gold aus warmen Quellen
durchströmte sommerlich die Luft. Nun wird es Nacht.
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Hätte es keinen Titel, dann wäre das Gedicht ein Haiku, wobei es eigentlich egal ist, welche Form hier gewählt wurde, Hauptsache es wird etwas zum Herbst vermittelt, das des Vermittelns lohnt.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Start in den Herbst
Auf der Balkonbrüstung glänzen
im Morgentau die Spuren
eines Vogels.
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Ernte im Herbst enthält auch immer den Gedanken an den Tod, der ebenfalls erntet. Doch dieser Gedanke wird ganz und gar aufgehoben durch den Hinweis, dass gleichzeitig wieder gesät wird.
Stephan Milow · 1836-1912
Ist das ein Sterben? ...
Ist das ein Sterben? Menschen regen
Sich munter auf dem Ackerland;
Hier führt der eine heim den Segen,
Dort streut das Korn des andern Hand.
Mich dünkt, ich seh’ erst jetzt das Leben
So voll gestillt wie hoffnungsreich:
Was kann es Schöneres denn geben,
Als ernten und auch sä’n zugleich?
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Ein einfacher Analogieschluss verhilft in diesem Herbstgedicht jemandem zu einem glücklichen Leben.
Adam Kuckhoff · 1887-1943
Herbstlied
Wenn dieses nun so ist,
dass von den Jahreszeiten,
Herbst, du die reichste bist,
was öffnet das für Weiten!
Vom Knaben, der ich war,
geh ich ins Mannesleben –
Mir bleibt das hohe Jahr
und auch der Herbst gegeben.
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Wer sagt, dass der Herbst nicht auch neue Vegnügungen bringen kann? Wo die wilden Winde wehen, da kann man Drachen steigen lassen.
Etwas unheimlich kommt der Herbstmorgen dieses Gedichts daher. Man muss anscheinend im Herbst die Pflanzenwelt aufmerksam beobachten. Aber das ist ja eh Dichterpflicht.
Richard von Schaukal · 1874-1942
Herbstmorgen
Düster über den Dächern
dämmert ein kränkelnder Tag.
Mit zerfallenen Fächern
schwanken die Bäume zag.
Manchmal in jähem Erschauern
drängen die Ranken heran,
klammern sich an die Mauern,
flehen durchs Fenster mich an.
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Rilke spannt in seinem Herbstgedicht den Bogen von der Natur zum Menschen.
Ein herbstliches Abendlied singt hier der Dichter mit einem ziemlich abrupten Wegschlummern des Waldes am Schluss.
Friedrich Trautzsch · 1866-?
Blühensmüde ruht die Erde ...
Blühensmüde ruht die Erde
In der trüben Herbstluft Weh’n,
Denn die Welt hat sich besonnen,
Dass es Zeit zum Schlafengehn.
Schon umfängt ein halbes Träumen
Dort den bunt gefärbten Wald;
Längst in seiner Wipfel Schweigen
Ist das letzte Lied verhallt.
Und ihn hüllen nächt’ge Hände
Mütterlich in Sternenschein;
Über seinem eignen Rauschen
Schläft er ein.
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Eine der großen Fragen stellt dieses Herbstgedicht an welche, die kaum antworten können. Da wird wohl der Leser selbst einspringen müssen.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Herbstgedanken
Nun geht ihr also wieder
und nichts und niemand
kann euch zum Bleiben überreden.
Einerseits verstehe ich das:
Die Winter hierzulande
sind nichts
für zarte Gerippe.
Doch andrerseits:
Glaubt ihr wirklich,
hier auf Erden ist es besser
als dort oben
an den Bäumen?
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Kommentar:
Dieses Gedicht ist im obigen Video enthalten und als Einzellesung bei Youtube.
Wenn die Blätter fallen und es kalt wird, dann stimmt manch einer – so wie dieser Dichter – das Lied vom Älterwerden an, obwohl er doch gar nicht mehr singen mag.
An den Herbst persönlich richtet sich das folgende Gedichte in einer nachdenklich-besinnlichen Stimmlage.
Wenn nicht gerade Herbststürme durchs Land sausen, dann hat der Herbst seine ganze eigene niederdrückende Stille.
Richard von Schaukal · 1874-1942
Herbstschweigen
Wieder bin ich allein im dämmernden Garten gegangen,
Tiefer schweiften die Krähen, der Wald war von Wolken verhangen.
Mitten aus den verfinsterten Fichten erhoben sich rote,
braune, blassgelbe Blätterwipfel und standen wie Tote.
Und es war in der Welt eine Stille, die traurig verharrte,
dass mir das Herz in der Brust vor so viel Schweigen erstarrte.
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Leicht apokalyptisch kommt dieses kurze Herbstgedicht daher. Schon im September denkt die Stimme des Gedichts sehr intensiv an den November.
Max Herrmann-Neiße · 1886-1941
Herbst
In diesem Schmerzseptember geistert Allerseelen schon,
des Lebens Strom sucht fröstelnd Unterschlupf in seiner Winterhöhle,
die welken Blätter überbluten den verstoßenen Menschensohn,
das Totenlämpchen zehrt an letztem Öle.
Die Straßen rücken an den Friedhof. Blumenstöcke
entblättern sich und stehn als Marterkreuze blind.
Auf wüstem Stoppelfelde schrein vergessen ein paar Böcke
ihr Ängsten in den mitleidslosen Schädelstättenwind.
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Der Gedankensprung vom Vergehen der Natur zum eigenen Ableben ist nicht weit. In diesem Herbstgedicht findet der Dichter Trost in der Schönheit des herbstlichen Naturschauspiels.
Mit dem Gehen ist es sowohl im Alter als auch in sehr jungen Jahren nicht so einfach, zumal im Herbst noch die Blätterschicht stört. Hier stört sie jedoch weniger, sondern erinnert an etwas.
Hans-Peter Kraus · geb. 1965
Herbstgang
Schritt
für
Schritt
geht
die alte Dame
am Krückstock,
das kleine Mädchen
an der Hand
seiner Mutter.
Im Vorbeigehen
rascheln Blätter
unter meinen Füßen.
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Obwohl der Herbst in diesem Gedicht noch in den Anfängen steckt, ist doch der kommende Winter bereits fest im Blick.
Richard von Schaukal · 1874-1942
Heute
Heute zum ersten Mal hat sich der gilbende Garten
weithin erhellt, vom nächtlichen Winde gelichtet.
Stand er doch gestern noch ins eigenen Dämmern verdichtet
so als wollt’ er die Stürme des Winters gesichert erwarten.
Und nun muss es dunkel werden und täglich
kälter, kahler, nackt und ärmer, frieren und schweigen,
bis die weißen Wolken tiefer sich niederneigen
und wieder wirbelnd Schnee sinkt, einsam unsäglich.
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